Der Lippenstift meiner Mutter
Es ist also beschlossen: Anton und Marcin dürfen von all dem, was mir heute Morgen passiert ist, nichts erfahren! Gar nichts! Franzose! Immer, wenn man dich braucht, bist du nicht da! Was soll ich deiner Meinung nach tun?
Als sich Bartek dem Johanniter-Krankenhaus näherte und in der Warschauer Straße am Gerichtsgebäude mit dem Stadtgefängnis vorbeimarschierte, lief er geradewegs in die Arme seiner Oma Hilde und seines Vaters Krzysiek. »Es geht ihm gut, es geht ihm gut!«, hörte er schon von weitem Hilde rufen. »Es geht ihm gut, es geht ihm gut …«, wiederholte sie und weinte. Dann sagte sie, dass er, Bartek, sie morgen am späten Nachmittag wieder einmal aufs Milizrevier begleiten müsse – der deutsche Spion aus Amerika werde erneut verhört. Barteks Vater sagte anschließend, er würde jeden Morgen etwas früher aufstehen und zu Monte Cassino gehen, um ihn zu rasieren. Die Krankenschwestern seien – vor allem die dumme Pute Mariola – verantwortungslose Hexen, die man andauernd bestechen müsse: mit Pralinen, Kaffee oder Zigaretten. »Bartek, du kommst morgens mit ins Krankenhaus!«, sagte er zu seinem Sohn. »Wir werden deinen Opa waschen und rasieren, damit er wieder schnell gesund werden kann!«
Und dann gingen Oma Hilde und der Vater weg – ohne Bartek gefragt zu haben, warum er nicht in der Schule war. Sie hatten sich nicht einmal dafür interessiert, weshalb er gerade in dieser Gegend, die doch an das Johanniter-Krankenhaus-Revier grenzte, unterwegs war. Sie hatten ihn vor dem Gerichtsgebäude stehen gelassen, als hätten sie einen Bekannten getroffen − und nicht ihr Schusterkind. Der Vater war in Eile. Er sagte, er hätte am Abend Mathematikunterricht und müsste bis dahin noch einiges erledigen, vor allem schwierige Algebraaufgaben lösen. Wenn er nicht trank und wenn er wieder ein guter Wassermann werden wollte, kehrte er zum Studium der Algebra zurück, um das Abitur nachzuholen. Monte Cassinos Herz, sein Herz lag im violetten Sterben und jagte dadurch Barteks Vater Angst ein: Der Wassermann kämpfte mit seinem schlechten Gewissen. Und dem Tod auf seinen Schultern.
Das Algebrabuch des Vaters
Die Zeit der Überschwemmungen fror friedlich ein, wenn der Vater sich dem Studium des Algebrabuchs hingab, das meistens mehrere Wochen dauerte, in denen er keinen einzigen Tropfen Alkohol trank und an zwei Tagen und am Wochenende wieder zur Abendschule ging. Hatte er schulfrei, setzte er sich nach der Arbeit im Personalbüro der Textilfabrik Warmianka in Barteks und Quecksilbers Zimmer und rechnete bis in die späten Abendstunden, manchmal sogar noch länger, sodass Bartek und sein Brüderchen Quecksilber im Licht der Schreibtischlampe einschliefen. Und der Vater rechnete und rechnete am Schreibtisch und zeichnete geometrische Figuren und schrieb lange Zahlen- und Buchstabenreihen ins Heft. Niemand durfte ihn beim Rechnen und Zeichnen stören, und alle mussten in der Wohnung auf Zehenspitzen gehen. Gelegentlich, wenn ihm Stasia in einem Teeglas Kaffee gebracht hatte, sah er von den Büchern zu ihr auf und hielt einen kurzen Monolog über die physikalische Macht der Zahlen. Stasia stand dann neben ihm reglos und voller Ehrfurcht da und wagte nicht, den Monolog ihres Mannes zu unterbrechen. Und obwohl Stasia ein abgeschlossenes Universitätsstudium besaß, wurde sie von Barteks Vater wie eine piepsende dumme Maus behandelt, wenn er einen seiner Algebramonologe hielt. Und dass er Stasia als eine piepsende dumme Maus betrachtete, hinge damit zusammen, erklärte Opa Franzose seinem Enkel, dass ungebildete Menschen, die ein bisschen in irgendein Wissen reingeschnuppert hätten, sich gleich wie Halbgötter vorkämen. Sie könnten sich nicht vorstellen, dass es in den Büchern auch noch ein unsichtbares Wissen gebe, das auf seine Entdeckung durch einen klugen Leser warte.
Ausgerechnet in dieser eingefrorenen mathematischen Trockenzeit des Wassermanns lebte die Mutter auf und besuchte ihre Freundinnen, ging einkaufen und sogar ins Kino. Und Bartek musste des Öfteren seinem zu einer mathematisch-physikalischen Formel gewordenen Vater am Schreibtisch Gesellschaft leisten und seinen Kurzmonologen Gehör schenken. »Lerne, lerne von mir!«, sagte dann der Vater. »Ich bin der Erste und der Letzte, und du gleichst einer Null, wie jedes Kind. Deswegen musst du von mir lernen, ich weiß nämlich, worum es auf Erden geht, weil ich die Gesetze der Algebra verstehe und beherrsche. Das ganze Universum besteht aus
Weitere Kostenlose Bücher