Der Lippenstift meiner Mutter
obwohl ich mich über deine mir herzlich zugeneigten Worte gefreut habe. Allerdings tauchte bei mir schnell die Frage auf, wie jemand über etwas, das er nicht zu begreifen imstande ist, schreiben kann? Was verstehst du schon von Dichtung, Schusterkind? Ich antworte dir hiermit: gar nichts! Mein Urteil soll dich jedoch nicht kränken, denn deine Polnischlehrerin ist genauso wenig begabt wie du. Aber ich muss meine Rede von hinten herum anfangen: Ich bin vorzeitig in Pension gegangen, ich konnte die Dummheit und Arroganz der Schüler, Lehrer und Dichter nicht mehr ertragen. Nach meinem Nervenzusammenbruch blieb mir nur eines: der Rückzug ins Private. In meinem privaten Staat habe ich mich dann so weit erholen können, dass ich wieder zu mir selbst fand − und auch zur Welt. Nach dieser Erholung setzte ich meine physikalischen Forschungen fort und beschloss, nie wieder ein Gedicht zu schreiben. Nie wieder! Die Wahrheit ist nämlich die, dass die Schüler vor Gedichten wie auch vor den physikalischen Gesetzen des Universums keinen Respekt und vor allen Dingen keine Ehrfurcht aufbringen. Die Schüler spucken sogar auf die Dichtung und auf die physikalischen Gesetze des Universums, weil ihnen nichts mehr heilig ist. Und es ist grausam, ihnen bei diesem respektlosen Spucken zuschauen zu müssen − wie ich das einmal als Physiklehrerin erfahren habe −, mit dem Wissen zu leben und sich damit herumzuschlagen, dass die Schüler nicht einmal ahnen, wie sehr sie von der Dichtung und von den physikalischen Gesetzen des Universums geformt werden, und zwar Tag für Tag: Die Schüler ahnen es aber nicht! Sie denken tatsächlich, sie seien sie selbst! Dabei sind sie nur das Produkt ihrer eigenen Vorstellung von der Welt und Wirklichkeit und von sich selbst! Noch schlimmer ist es mit unseren Lehrern. Sie foltern die Schüler mit toten Jahreszahlen, Fakten und Formeln, die normalerweise von Bibliothekskartotheken oder elektronischen Abakussen und Gehirnen namens Odra gespeichert und verwaltet werden. Die Lehrer nehmen Galileo Galileis Verse ›Alles messen, was messbar ist, und messbar machen, was noch nicht messbar ist‹ wortwörtlich. Sie betrachten die Welt und die Wirklichkeit als eine tote Materie, und mit diesem künstlichen und formlosen Brei füttern sie die Schüler. Wir brauchen uns deshalb nicht zu wundern, dass auf unsere Gesellschaft Jahr für Jahr lauter Dilettanten und Ignoranten losgelassen werden, die über einen zweifelhaften Schulabschluss verfügen und kein Interesse daran haben, für das Wohl der Allgemeinheit und an der Weiterentwicklung des Neuen Menschen zu arbeiten. Diese Dilettanten und Ignoranten wollen in Wahrheit nur eines: die Bedürfnisse ihres Egos befriedigen. Doch all das ist bei weitem nicht so spektakulär wie der Betrug der Dichter, und glaube mir, Schusterkind, ich weiß, wovon ich rede! Die Dichter sind Sklaven ihrer Selbsttäuschung. Sie wollen uns ihre Vorstellung von der Welt und Wirklichkeit aufzwingen und erwarten dafür noch eine Belohnung. Dabei sind sie geborene Angsthasen, weil sie die Dinge, die sie zu beschreiben versuchen, nie beim Namen nennen. Stattdessen verkriechen sie sich in ihrer Vorstellung von der Welt und Wirklichkeit und behaupten sogar, dass sie für die Erhaltung und Heiligung der Dichtung und der physikalischen Gesetze des Universums kämpfen. Von wegen! Betrüger sind sie, Betrüger! Und Sklaven ihrer Selbsttäuschung! Manipulanten! Illusionisten! Betrüger … Falsche Götter … Betrüger …«
Bartek konnte sich nicht mehr konzentrieren, seine Gedanken waren chaotisch, und Natalias Rede, die nicht aufhören wollte, hatte ihn in einen Zustand der Amnesie und Resignation versetzt, den er von der Heiligen Messe am Sonntag kannte oder auch vom Wehrunterricht, wenn er zusammen mit seinen Klassenkameraden von dem pensionierten Leutnant Żukrowski durch die Schneewehen des Stadtwaldes gejagt wurde − die Schrotflinte geschultert, unterm Schädel der sozialistische Brei, die Anfeuerungsrufe des Leutnants: »Ich-habe-das-Herz-am-rechten-Fleck-aber-Trainingmuss-sein!« Und das Schusterkind verstand kein Wort von dem, was ihm die Stalinistin zu erklären versuchte. Ihm fielen die Augenlider zu, und es nickte mit dieser monotonen metallenen Stimme in seinem Kopf ein.
Kapitel 15: Das Mahl des Ziegenbocks, die litauischen Sänger und Monte Cassinos neue Beine
(Epilog für die Polnischlehrerinnen des Mechanischen Technikums in Dolina Ró ż )
Opa Monte Cassino starb in
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