Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
Vom Netzwerk:
Tage untertauchen. Norbert half ihm dann bei der morgendlichen Toilette, er wusch ihn und zog ihn wieder an, und vor dem Schlafengehen setzte er Monte Cassino auf den Nachttopf wie ein kleines Kind. Im Grunde genommen konnte Barteks Opa seine Frau, eine uralte Ostpreußin, die zu jeder Familienfeier und selbst beim Bridge immer die gleiche Geschichte erzählte, wie sie 1945 hundertzwanzigmal von den Rotarmisten vergewaltigt worden war, nicht mehr ertragen. Am liebsten würde er sie töten, in Stücke schneiden, weil ihr äußerst lästiges Jammern über die Gräuel des Krieges und über ihre Krankheiten, unter denen sie angeblich litt, kein Ende nehmen wollte. Und Bartek wunderte sich nicht darüber, dass ihm Opa Monte Cassino einmal bestätigte, was Norbert seit langem behauptete, dass nämlich die in Vergessenheit geratenen und von den Kunden seines Vaters nicht abgeholten Schuhe sprechen könnten. Man müsse sich bloß in der Totenkammer für eine ganze Nacht zum Schlafen legen, und dann würde man verrückt träumen, erzählte Monte Cassino. Zumindest habe er in der Totenkammer den Krieg vergessen können, und die Träume von seinen im Gefecht gefallenen Kameraden seien gänzlich verschwunden. Die Schuhe aus der Totenkammer, meinte Barteks polnisch-galizischer Opa, hätten mit ihm schon mehrmals gesprochen und ihn beruhigt. Sie hätten ihm gesagt, er müsse sich um seine Kameraden keine Sorgen mehr machen, sie seien alle wohlauf.
    Wenn Herr Lupicki manchmal eine freie Minute hatte, was selten vorkam, betrat er die Totenkammer, setzte sich auf das Sofa, schaute sich das Regal mit den herrenlosen Schuhen an, trank Kaffee und rauchte Zigaretten. Es war für ihn unbegreiflich, dass jemand seine eigenen Schuhe, die er zur Reparatur abgegeben hatte, vergessen konnte. Manche dieser unzuverlässigen Kunden erkannte er wieder auf den Straßen von Dolina Ró ż ; er sprach sie darauf, dass ihre Schuhe seit Jahren auf Abholung und Bezahlung warteten, nie an – sein Stolz und sein Ehrgefühl erlaubten ihm nicht, einen Kunden zu mahnen, damit dieser endlich seiner Verpflichtung nachkam.
    Der Eingang in die Schusterwerkstatt war von weitem kaum zu erkennen: Der Schneesturm wütete in den engen Straßen, an Türen und Fenstern klebte eine dünne Schicht Eis. Die Martinshörner der Feuerwehr und Krankenwagen heulten immer noch, sie sangen weiter ihr trauriges Lied, und manche neugierigen Bewohner des Städtchens eilten immer noch zum Unfallort, obwohl ihnen der Schnee ins Gesicht peitschte und sie sich mit der Hand die Augen verdecken mussten. Bartek zündete seine Zigarette, die nicht brennen wollte, mehrmals an, schließlich warf er sie vor der Tür der Schusterwerkstatt in den Schnee, wo sie sofort verschwand wie ein Stein im See.
    Bei Herrn Lupicki bot sich dem Schusterkind und Norbert der gewohnte Anblick: Der Laden war so voll wie das Piracka an den Sonnabenden, wenn die Fähnriche, Funker und Versicherungsvertreter ihre Ehefrauen in die Dancing-Bar einluden.
    Im ganzen Raum, der nicht mehr als fünfunddreißig Quadratmeter maß, schwebte eine milchige Dunstwolke. Alle Männer qualmten eine Fluppe nach der anderen, und das beherrschende Thema ihrer Gespräche war der Unfall mit den Kühen und dem Tanklastwagen. Der Kachelofen glühte, und im Radio lief leise Musik. Den Tresen belagerten Herrn Lupickis Kunden, und selbst der Mörder Baruch und die Hure Marzena waren da, dazu auch der Fabrikdirektor Szutkowski, der einen Wirkwarenbetrieb mit dreitausend Angestellten führte und für den auch Barteks Vater als Mädchen für alles arbeitete. Schließlich mussten sich die Arbeiter von ihrer schweren körperlichen Schufterei in den Ferien und am Wochenende erholen, wofür Krzysiek zuständig war. Er organisierte verschiedene Freizeitangebote: Tischtennisturniere, Ausflüge an die großen masurischen Seen, Schlittenfahrten, Weihnachtsfeiern und so weiter.
    Opa Monte Cassino, Herr Lupicki und dessen Angestellter Micha ł Kronek begrüßten die neuen Gäste und schimpften sogleich mit ihnen, sie sollten rasch die Tür schließen, damit die Wärme vom Kachelofen nicht entfliehen könne. Das Schusterkind entdeckte aber seinen Opa Franzose nirgendwo, doch als es sah, dass auf der Toilette Licht brannte, ahnte es sofort, wer sich ihm gleich zeigen würde.
    Herrn Lupickis Werkstatt schien seit Wochen nicht aufgeräumt worden zu sein. Überall, auf den Tischen und Werkbänken und auf dem Fußboden, waren dicke schwarze Staubschichten zu

Weitere Kostenlose Bücher