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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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Die Absätze brachen bei den Damenschuhen oft bei den ersten zwei, drei Schritten ab, die Riemen rissen nach einmaligem Ziehen, oder der Schuh drückte erbarmungslos, obwohl der Kunde die richtige Schuhgröße gewählt hatte.
    Am Kiosk gleich neben dem Schuhladen musste Norbert eine Schachtel Extra Mocne besorgen, da die Verkäuferin dem Schusterkind keine Zigaretten mehr verkaufen wollte: »Die sind nicht für deinen Vater! Ich weiß, dass du sie selbst rauchst!«, sagte sie, wenn der Schusterjunge Fluppen von ihr zu bekommen versuchte.
    Auf der gegenüberliegenden Seite prunkte das Haus von Oma Hilde und Opa Monte Cassino mit Jugendstilornamenten – ein prächtiger Altbau mit zwei Geschossen und einer herrlichen Veranda, von der aus man den ganzen Defilierplatz übersah.
    Bartek steckte sich eine Zigarette an – er wollte möglichst erwachsen und ernsthaft wirken, wenn er Opa Franzose vor die Augen treten würde. Er hoffte nur, in der Werkstatt von Herrn Lupicki mit keiner bösen Überraschung rechnen zu müssen: Alle wussten, dass das Schusterkind rauchte, und man bot ihm ab und zu eine Zigarette oder gar einen Schnaps an, doch Barteks Eltern durften davon nichts erfahren. Der Junge bekreuzigte sich und wünschte sich »Viel Glück!« und hoffte, dass sein Vater an dem verschneiten späten Nachmittag vom Büro schnurstracks nach Hause gegangen war. Aber wer konnte das schon wissen? Vielleicht hatte es sich schon überall herumgesprochen, dass der Franzose zurückgekehrt war, und nun war Krzysiek wahrscheinlich seit mindestens einer Stunde unterwegs, weil er auf Bitten seiner Frau den Franzosen suchte, den er allerdings nicht besonders mochte. Opa Franzose war nicht zimperlich, was die Kritik an seinen Schwiegersöhnen anging, und die Wahrheit kannte nur das Schusterkind: Der Franzose hielt die drei blonden Schwager für die größten Dummköpfe, die ihm je begegnet waren; für sie erfand er auch eine drastische Bezeichnung: Samenproduzenten. »Die können nur Kinder zeugen, diese Eber! Das ist alles!«, sagte ihm sein Opa einmal.
    Es schneite immer heftiger, und ein stürmischer Wind wehte durch die Straßen. Bei so einem Wetter war die Werkstatt von Herrn Lupicki proppenvoll und aufgeheizt wie eine Sauna: Man brauchte keinen Pullover mehr, man durfte sogar sein Hemd ausziehen und im T -Shirt oder Unterhemd auf einer Bank sitzen (wenn man es als Kunde eilig hatte und die Schuhe gleich nach der Reparatur wieder anziehen musste).
    Herr Lupicki pflegte viele kleine Macken. In seiner Werkstatt trug er am liebsten schwarze oder weiße Netzunterhemden, und auf dem Kopf hatte er eine gestrickte Kippa, obwohl er kein Jude war, zumindest auf dem Papier nicht mehr. Seine Eltern hatten einst in Lwów für Polen, ihre neue Heimat, und für den Kommunismus alles aufgegeben – ihren jüdischen Glauben und ihre Muttersprache. Und selbst seine Aushilfe, der ehemalige Wehrmachtssoldat, spekulierte darüber, wer nun der Schuster Herr Lupicki sei. Zu Hause bei Oma Hilde und Opa Monte Cassino, den Deutschen, bei denen sich regelmäßig ein paar alte Weiber und Männer zum Bridgespielen bei selbst gemachtem Eierlikör und Kaffee trafen, erzählte man sich, der alte Lupicki sei in Wahrheit ein ukrainischer Chassid, was den Schuster besonders amüsierte, da er mehr einem Türken oder Griechen ähnelte als einem Chassid aus der Ukraine.
    Bartek hatte den Anbruch der Dunkelheit verpasst − die Nacht war plötzlich von ihrem kurzen Urlaub zurückgekehrt. Und obwohl in Dolina Ró ż die Nacht und der Mond zusammen mit den Krähen und dem Schnee die einzigen wahren Herrscher und Könige waren, vor denen man sich fürchten musste, mochte er die Dunkelheit des ewigen Winters sehr. Er mochte außerdem die scharfe Kälte und das Leuchten des Schnees in der Stille der Straßen von Dolina Ró ż , wenn er nach einer Filmaufführung im Zryw um halb elf nach Hause ging. Der Himmel war ungeheuerlich still und kalt, der Schnee leuchtete gelb und manchmal orangefarben, und die hohen Minustemperaturen machten Barteks Kopf und seine Seele vollkommen nüchtern, sodass er nicht einmal mehr daran dachte, bei Opa Monte Cassino vorbeizuschauen, um mit ihm in der Totenkammer, dem Lager der Schusterwerkstatt, heimlich eine Zigarette zu rauchen und einen Schnaps zu trinken. Monte Cassino schlief sogar in der Totenkammer, obwohl dieser Raum winzig klein war und keine Fenster besaß. Er musste sich ab und zu eine Auszeit von Oma Hilde nehmen und für ein paar

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