Der Lippenstift meiner Mutter
Familiendokumenten verwaltete, da er als einer der wenigen Neuankömmlinge schreiben und lesen konnte: Polnisch, Russisch, Deutsch und Französisch. Und nicht nur das: Wenn sie etwas zu feiern hatten, spielte er für sie auf seiner Geige lustige Lieder und zur späten Stunde traurige Balladen. Franzosen waren in der Vorstellung der Bewohner des Städtchens die kultiviertesten Edelleute Europas, die, wenn es nötig war, dem einfachen Volk halfen und es obendrein mit Liedern und Gedichten zu unterhalten wussten.
Der Franzose, der Olcia im KZ Bergen-Belsen kennen gelernt hatte, heiratete sie schließlich, doch mehr aus Mitleid als aus Liebe. Er hatte seiner Braut keine Wahl gelassen: Obwohl sie aus Großpolen stammte, hatte Olcia ihrem Mann in den Wilden Osten folgen müssen. Er langweilte sich schrecklich mit ihr und den drei schwarzhaarigen Töchtern. Sesshaftigkeit, das war nichts für ihn. Oma Olcia meinte später – wie zu seiner Entschuldigung −, die Nazis hätten ihn während seiner KZ -Gefangenschaft so oft gefoltert, dass er den Verstand verloren hätte; sein Pflichtbewusstsein gegenüber der Familie hätten ihm die Deutschen aus Herz und Kopf geprügelt.
Opa Franzose interessierte es nicht, ob seine Frau Geld in ihrem Portemonnaie hatte, um auf dem Wochenmarkt zehn Eier, ein Kilo Schweinefleisch für den Gulasch oder ein Huhn kaufen zu können. Die Kochtöpfe und die Heilige Messe am Sonntag waren seine größten Feinde. Ständigen Hunger und ständige Gottesfurcht verspürten seiner Meinung nach nur dumme Menschen, die nicht ins Kino gingen, sich aus Büchern nichts machten, keine Zeitungen lasen und die Bachs oder Mozarts Violinkonzerte als vollkommen überflüssig betrachteten. Und war der Kühlschrank leer, waren das Sauerkraut und die Weckgläser mit eingelegten Gurken und Birnen aus dem Keller verbraucht, so sagte er, er müsse nichts essen, er könne auch einfach schlafen gehen. »Aber Bücher kannste nicht fressen!«, schimpfte dann seine Frau.
Der Opa Franzose lag gern tagelang auf dem Sofa, las seine Bücher oder übte auf der Geige und brachte seinen Töchtern gutes Benehmen und Tischmanieren bei. Er ging nur selten in die Kirche, da er die Kirche für die Erfindung des Teufels hielt, und den Papst mochte er überhaupt nicht. Seine Frau kratzte ihm fast die Augen aus, wenn er wieder einmal irgendwelche lästerlichen Sachen sagte. Er antwortete ihr stets im Ton eines Spötters: »Olcia, du bist nicht mit mir, sondern mit unserem Pfarrer vom St.-Johann verheiratet. Und wer kann mir beweisen, dass Jesus wirklich gekreuzigt wurde? Wer ist außerdem so kühn und leidet am Kreuz für Millionen und Abermillionen von Menschen? Weißt du, wie Menschen in Wirklichkeit sind? Sie sind vergesslich und böse!«
Dann aber kam eine schwere Zeit für Oma Olcia. Ihr Mann verschwand immer öfter, und die Monate, in denen er abwesend war, wurden lang und unüberschaubar. Niemand wusste, wo sich der Franzose herumtreiben mochte und wann er wieder nach Dolina Ró ż zurückkehren wollte. Man sagte, er habe bei der polnischen Eisenbahn einen Posten angenommen und sei oft auf Reisen. Und manche Leute aus Dolina Ró ż behaupteten, dass der Franzose in seine Heimat zurückgegangen sei: nach Frankreich. Und Frankreich, das war ein Land, das für sie auf einem anderen Planeten lag, weil sie wussten, dass sie es nie besuchen würden, nicht einmal dann, wenn erneut ein Weltkrieg ausbrechen und drei Herren wieder einmal die Grenzen verschieben würden, sodass kein Stein mehr auf dem anderen stünde. Als aber der Franzose nach jahrelanger Abwesenheit nach Dolina Ró ż zurückkehrte, freuten sich seine schwarzhaarigen Töchter, und Oma Olcia wusch ihm sogar die Hemden und bügelte sie – Oma Olcia kochte ihm das Mittagessen und redete mit ihm, als wäre er nie abgehauen. Er durfte bloß nicht in ihrem Ehebett schlafen, nein, das nicht. »Du hast bestimmt eine Geliebte!«, warf ihm seine Frau vor.
»Liebe Meryl!«, sagte Bartek. »Wir haben eine Verabredung mit dem Franzosen!«
Zwei ebenerdige Häuser standen ganz am Anfang der Hanka-Sawicka-Gasse, die zum mittelalterlichen Kreuzrittertor mit der Turmuhr und den auf seinem steilen Dach wohnenden Krähen führte. Die Werkstatt von Herrn Lupicki in der Hanka-Sawicka-Gasse lag neben einem Schuhladen, was die Verkäuferinnen als äußerst praktisch empfanden, da die neuen Schuhe − vor allem aus der heimischen Produktion − schon beim Anprobieren grobe Mängel aufwiesen:
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