Der Lippenstift meiner Mutter
und den Tieren wird die Unsterblichkeit des Weltalls von der Zeit gestohlen. »Es ist ein Elend, ein Elend!«, klagte Herr Lupicki, wenn das Schusterkind am Tresen seiner Werkstatt wieder einmal schwer ins Grübeln kam, von Marcin, dem Aristokraten des Denkens und Handelns, für den anstrengenden Beruf des Grüblers bestens vorbereitet.
Bartek fragte nun auf dem Weg zur Werkstatt von Herr Lupicki seine Freundin: »Meryl! Wie möchtest du heute heißen?«
»Ich weiß nicht! Am liebsten ist mir, wenn du mich Meryl nennst!«
»Also gut, Meryl! Soll ich dir was sagen?«
Sie nickte mit dem Kopf und lächelte.
»Madame! Sie gehen so schön im Schnee!«
Das Mädchen freute sich. Die rothaarigen knielangen Haare der Geliebten des französischen Leutnants färbten sich plötzlich blond und waren auf einmal sehr kurz, wie bei einem zwölfjährigen Jungen.
»So gefällst du mir auch, meine Meryl! Vielleicht sollte ich dich ab heute – zur Feier des Tages, da mein Opa Franzose nach Dolina Ró ż zurückgekehrt ist – nur noch so nennen: Meryl! Meine liebste Meryl!«
»Ja, den Vorschlag nehme ich sofort an!«, antwortete das Mädchen. »Aber was ist mit Norbert? Warum weint er?«
Bartek war so sehr in das Gespräch mit Meryl Streep vertieft, dass er nicht mitbekommen hatte, was mit seinem traurigen Kompagnon los war. Er sah sich Norberts Gesicht kurz an: Seine gerötete Nase lief, und Tränen rollten bei der Kälte im Schneckentempo seine Wangen hinunter.
»Er weint«, sagte Bartek, »weil er weiß, dass du niemals seine Geliebte werden wirst, denn du liebst mich, und außerdem ist Norbert hässlich und dumm, was ihm selbst übrigens sehr wohl bewusst ist!«
»Ich werde ihn erst nach seinem Tod lieben – im Jenseits kann ich ihn sogar heiraten! Dort im Jenseits sind alle Menschen schön, jung und gesund!«, tröstete Meryl umgehend den Buckligen, was ihr auch auf Anhieb gelang, da der arme Wicht zu heulen aufhörte. Man sah ihm förmlich an, dass ihn die quälenden Gedanken verlassen hatten. Sein Gesicht verlor die Blässe, die rote Nase lief nicht mehr so stark, und der Sohn des Schusters wischte sich den Rotz mit dem rechten Ärmel seines Pelzmantels weg.
Kapitel 4: Opa Franzose und die Werkstatt von Herrn Lupicki
Bartek erzählte Meryl von Opa Franzose.
Sein Spitzname war eigentlich kein großes Rätsel: Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges setzte die große Wanderung abenteuersüchtiger Männer, der osteuropäischen Cowboys, ein. Zu diesen Cowboys gehörte auch Barteks Opa Franzose, der in der Ukraine im Hause eines polnischen Gelehrten und Postdirektors geboren wurde. Warum aber sollte er in einer Großstadt wie Gda ń sk oder Toru ń leben und den langweiligen Posten eines Beamten und Verwalters annehmen, zum Beispiel in einem Bauamt? Er konnte doch Geige spielen und französische Bücher im Original lesen. Er hatte Abitur gemacht, und wäre nicht der 1 . September 1939 , an dem sein Vater in einem Autohaus einen nagelneuen Fiat hätte abholen sollen, dazwischengekommen, hätte er sicherlich in Lwów oder Krakau ein Universitätsstudium begonnen. Opa Franzose sah gut aus, und die Frauen mochten ihn. Er war witzig, intelligent und gebildet. Nichtsdestotrotz: Bildung oder Ruhm bedeuteten ihm nicht viel.
Also ging er nach Masuren, in das neue Polen. Die Deutschen waren aus diesen Gebieten verjagt worden − Stalin, Roosevelt und Churchill hatten unter sich ausgemacht, wie das neue Europa auszusehen hätte. Aber Opa Franzose war mit ihren geopolitischen Vorstellungen nicht einverstanden, da er nichts mehr verabscheute als die Gewissheit der Herrschenden, dass ihr irdisches Lebenswerk ewig sei. Er fühlte sich nicht als Sieger der Geschichte, er war zudem kein überzeugter Kommunist. Er war nach Ostpreußen eher wie ein Abenteurer gekommen, der noch im 18 . Jahrhundert lebte, irgendwo in den Canyons des Wilden Westens oder in den Wäldern Alaskas. Nach wenigen Jahren wollte der Franzose weiterziehen, zumal er keine einzige Arbeitsstelle länger als sechs Monate behalten konnte. Ständig verlor er die Geduld und beleidigte seine Freunde und Arbeitskollegen, obwohl sie ihn in Dolina Ró ż bewunderten und ihm überdies des Öfteren aus einer brenzligen Situation herausgeholfen hatten, sodass er kein einziges Mal ins Gefängnis musste. Schließlich war er »der Franzose« – ein gebildeter Mann, der den Bewohnern des Städtchens beim Ausfüllen von Anträgen beistand und für sie gar ganze Akten mit
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