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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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Bartek hörte in seinem Kopf eine Stimme, die ihm die Einkaufsliste diktierte: Butter, Zigaretten für Papa, Milch, Watte für Mama, bitte den Lippenstift nicht vergessen … Brot! Das Schusterkind konnte den Augenblick, in dem der Vater endlich von der Nacht verschluckt wurde – mit Haut und Knochen −, nie abwarten. Es war der wichtigste Moment des Tages, ein Höhepunkt, wenn die Nacht gekommen war und mit ihr das Ende der Überschwemmungen, wie jetzt, er lag auf dem Schlafsofa und überprüfte noch einmal die Einkaufsliste, ob er denn nicht etwas vergessen hätte. Nein, er hatte nichts vergessen: Er war frei − Meryl Streep schlief in seinen Armen.
    Barteks Einkaufsliste
    Butter
    Zigaretten für Papa – Sporty oder Popularne
    Milch
    Watte für die verletzte Mama
    … bitte den Lippenstift nicht vergessen …
    Brot!
    Zucker, 5 Kilo Kartoffeln vom Gemüsestand
    … und ein Gurkenglas budapren von Herrn Lupicki
    Einmal im Monat war der Lippenstift der Mutter verletzt und hatte Bauchschmerzen. Bartek rannte dann zur Apotheke und beeilte sich, weil er Angst hatte, seine Mutter könnte verbluten und sterben. Warum nähen sie ihre Wunde nicht zu, diese dummen Ärzte?, wunderte sich das Schusterkind. Erst nachdem ihm Marcin erklärt hatte, warum die Ärzte solche Wunden nicht zunähten, wusste Bartek, wie sehr seine Mutter und ihr Lippenstift leiden mussten – bis an ihr Lebensende. Und hier bei Stasia, in ihrem Arbeitszimmer und Boudoir, herrschte so eine Stimmung, die für Bartek große Ähnlichkeit mit derjenigen eines Jahrmarkts und Rummelplatzes hatte, obwohl die Mutter nichts feilzubieten hatte und keine Zirkusnummern vorführen konnte. Im Sommer gab es in Stasias Boudoir frisch geschnittene Wiesenblumen, im Herbst die suszki , getrocknete Gänseblümchen. An den Wänden ihres Arbeitszimmers hingen Filmplakate und aus Kalendern ausgeschnittene Bilder: chinesische Landschaftszeichnungen, Gemälde barocker Meister, Frauenakte, kubistische und surrealistische Orgien, die Bartek von der Flucht aus Dolina Ró ż träumen ließen. Auf dem Schreibtisch stand ein Wählscheibentelefon, keine Attrappe − auf den Anschluss war die Mutter sehr stolz −, und es gab Briefpapier und einen chinesischen Füllfederhalter. Ihr am wichtigsten aber waren die verschiedenen ausländischen Kosmetika und Düfte sowie die Schmuckkästchen. Stasia besaß eine beachtliche Sammlung an Ohrringen, Clips, Armbändern, Halsketten, Broschen, Fingerringen, Lippenstiften, Wimperntuschen, Puderdosen, Cremes, Balsamen und Ölen. Ungeschminkt kannte Bartek seine Mutter gar nicht mehr – ungeschminkt ging sie gar nicht auf die Straße, und selbst wenn sie am frühen Morgen aufstand, sah sie wie eine Hollywood-Diva aus. Das tägliche Make-up war ihre Maske, und sie brauchte diese Maske, weil niemand erfahren durfte, dass sie in Wirklichkeit ein fünfzehn Jahre altes Mädchen geblieben war, in ihrem Verstand und in ihrer liebesgierigen Seele. Und die Gottheit, die sie auf dem Schmuck- und Kosmetikaltar anbetete, verlangte von ihr absoluten Gehorsam.
    Zugegeben: Die private Bibliothek der Mutter war viel bescheidener als die monströse Sammlung von Natalia Kwiatkowska, doch immerhin barg sie einige erstklassige Schätze, sodass das Schusterkind in den Bücherregalen solche Dramen und Komödien entdeckt hatte, die es nicht langweilten, obwohl sie zum Teil auch in der Schule gelesen wurden, wie zum Beispiel »Der Sommernachtstraum«, der Bartek als Gegengift gegen den ewigen Winterschlaf des Lunatals beste Dienste geleistet hatte.
    Als Opa Franzose zu ihm kam, war Bartek wach. Die Einkaufsliste und die vor Überfüllung platzenden Schmuckkästchen beschäftigten ihn nicht mehr. Es war seltsam, aber die Mutter mochte keinen Bernsteinschmuck. Vielleicht lag das daran, dass Stasia vor dem Altwerden Angst hatte: Bernsteinschmuck trugen in Dolina Ró ż vor allem alte Damen.
    »Ich muss dir sagen, dass wir morgen zu Olcia umziehen. Deine Mama hat mir erlaubt, dich mitzunehmen. Meine Töchter wollen mich nicht haben − ihre Herzen sind aus Stein! Und Olcia muss mich freundlich aufnehmen. Sie weiß ganz genau, was Jesus in seiner Bergpredigt gesagt hat!«
    Der Franzose zog sich aus. Seine Eisenbahneruniform hängte er in Stasias Kleiderschrank, die durchnässten Schuhe wanderten auf den Heizkörper, und mit einer Schere schnitt er die Zigarette in der Mitte durch, um Tabak zu sparen, und rauchte sie genüsslich vor dem Einschlafen. Er saß am Schreibtisch,

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