Der Lippenstift meiner Mutter
hat.« Dann küsste er den Franzosen mehrere Male hintereinander auf den Mund, und zwischendurch wiederholte er hoch und heilig, wie sehr er den Vater seiner Frau lieben und respektieren würde.
»Quecksilber!«, rief er noch, bevor er wieder einschlief. »Lass mich nicht allein! Ich bin so einsam in meinem durstigen Herzen …«
Als die Regierung den Strom einschaltete − kurz vor Mitternacht erst −, waren die meisten Bewohner von Dolina Ró ż längst zu Bett gegangen. Sie brauchten den elektrischen Strom nicht mehr. Wozu sollten sie ein Bad nehmen oder einen Fernsehfilm anschauen? Sie waren froh, dass die Nacht in ihr Städtchen zurückgekommen war.
Opa Franzose und seine Tochter zogen sich für eine Unterredung unter vier Augen in die Küche zurück, während Bartek − wie gewöhnlich, wenn Besuch von Verwandten da war − im Arbeitszimmer seiner Mutter unter die Bettdecke kroch. Er mochte es nicht, dass er zusammen mit den Gästen der Eltern, einer Tante oder einem Onkel, auf diesem harten Schlafsofa nächtigen musste, aber so lautete das ungeschriebene Gesetz, so waren die Regeln in Dolina Ró ż : Die Kinder dienten den Eltern nicht nur als Butler und Schutzschilde, sondern eben auch als Plüschtiere, an die man sich im warmen Bett gerne anschmiegte. Ich bin kein Teddybär, dachte sich Bartek, ich bin ein Mann! Warum behandeln sie mich wie ein Spielzeug und einen Wachhund?!
Einmal im Monat, wenn Onkel Versicherung seinem Hobby nachging und auf einer Hochzeit Schlagzeug spielte, musste das Schusterkind bei Tante Agata und ihren beiden kleinen Söhnen übernachten. Sie hatte panische Angst vor Verstorbenen, sie ängstigte sich davor, die Toten könnten sie nachts entführen und umbringen, und das war der Grund dafür, dass sie hin und wieder an Schlaflosigkeit litt. Besonders akut wurde ihr Leiden, wenn ihr Mann fürs Wochenende verreiste: Dann konnte sie gar nicht mehr schlafen, zumindest nicht in der Nacht. Sie brauchte die Nähe eines lebendigen menschlichen Körpers, zumal sie Hunde und Katzen nicht mochte. Sie musste diesen Körper spüren, sie musste spüren, dass seine Seele von Alpträumen nicht geplagt wurde. Tante Agata roch genauso verführerisch wie die Tochter von Herrn Lupicki. Aber was sollte Bartek mit ihr in diesem von Angst überfluteten Bett machen, mit seiner eigenen Tante noch dazu? Sie war für ihn viel zu alt und besaß nicht die Fähigkeit von Meryl Streep, die auf der Leinwand jedes gewünschte Alter annehmen konnte: mal war sie ein Mädchen, mal eine reife Frau in den Fünfzigern. Und wenn Barteks Tante dann endlich in tiefen Schlaf gefallen war und nicht mehr merkte, dass man mit ihr schlimme Sachen anstellen konnte, tat sie ihm leid, denn sie wünschte sich bloß eines: geliebt zu werden.
Bei Opa Franzose war das zum Glück alles anders − das Schusterkind hatte viele Fragen an ihn und freute sich auf die Nacht, auf die kommenden Tage und auf die vielen Stunden am Abend.
Der Vater hatte sich endgültig beruhigt und gab keinen Laut von sich: Er würde jetzt durchschlafen und gleich am frühen Morgen sein alltägliches Gejammer wieder fortsetzen. Kopfschmerzen und schlechtes Gewissen wegen des Trinkgelages im Piracka waren für den folgenden Tag vorprogrammiert. Seine Komplimente, die er Stasia dann bei der morgendlichen Toilette machte, um sie von seiner unermesslichen Liebe wie auch von seiner Unschuld zu überzeugen, fand Bartek jedes Mal abscheulich. Die Gespräche der Eltern verunsicherten ihn, da der Vater ungeniert von dem wunderbaren Sex mit seiner Frau sprach. Oder er verdammte Stasia und die Vorzüge ihrer verführerischen Schönheit, verdammte ihre eigenen Beischlafmethoden, was mehr als seltsam war, denn sie hatten sie schließlich selbst erfunden. »Soll ich ständig bluten, wie du?«, schrie er sie an. »Ich bin kein Weib!« Warum schämten sie sich nicht? Hielten die Eltern ihre Söhne für Idioten, die nichts merkten? Das Schusterkind hatte darauf keine Antwort. Es kannte viele Details ihres Liebeslebens, als würde es die beiden Eheleute beim Koitus heimlich beobachten, und es sagte sich zerknirscht: »Bartek! Wenn du dich schminkst, tust du es auch für deinen Papa! Du bist wirklich ein Perversling, mein Alter! Vielleicht solltest du deine Meryl gegen Robert Redford oder Jeff Bridges tauschen?«
Es galt also als ziemlich sicher, dass Krzysiek am nächsten Morgen die Wohnung wieder überfluten und seine Frau verdammen oder in den Himmel loben würde. Und
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