Der Lippenstift meiner Mutter
tragen! Ich danke dir dennoch sehr für deine Hilfe, meine Tochter«, sagte er. »Du hast mich nie so stiefmütterlich behandelt wie deine beiden jüngeren Schwestern Hania und Agata.«
»Sie lieben dich auch, obwohl du ihre Liebe nicht verdienst«, warf Stasia ein.
»Aber du hast das schwere Los eurer gealterten Eltern nie belächelt oder mich zum Narren gehalten.«
Bartek hielt es nach der Visite bei Natalia Kwiatkowska für besser, sich nicht in die Angelegenheiten des Franzosen einzumischen, bloß fühlte er sich seit ihrer Begegnung in der Werkstatt von Herrn Lupicki für seinen Opa verantwortlich: Immerhin war es ihm vergönnt gewesen, dass er als Erster von seiner Rückkehr erfahren hatte. Er sagte: »Am härtesten hat es doch mich getroffen! Ihr habt mich an der Nase herumgeführt, mir immer nur gesagt: Vielleicht kommt er nächsten Winter zurück, jenen Tag und jene Stunde kennt niemand, und vielleicht ist er schon seit Jahren tot – mit solchem Gerede habt ihr mich beinah in den Wahnsinn getrieben!«
»Du siehst dich als Opfer an?«, fragte seine Mutter und erstarrte.
Der Franzose wandte sich, um dem Schusterkind den Wind aus den Segeln zu nehmen, an seine Tochter: »Stasia, weißt du, was ich dringend brauche? Ein Paar Winterstiefel! Was sagen dazu die Weihnachtspakete? Werden mir die Deutschen noch einmal gnädig sein?«
»Herr Lupicki würde sich freuen, wenn er dir helfen könnte«, sagte Stasia. »Und manchmal zaubert er aus seiner Totenkammer wie aus einem Zylinder einen richtigen Schatz!«
»Nur über meine Leiche! Von ihm lasse ich mir nichts schenken, nicht von meinem Freund!«
Barteks Bruder Quecksilber kam im Schlafanzug angetrippelt und sagte: »Papa schläft nicht mehr – er liegt auf dem Teppich und wälzt sich hin und her.«
Tatsächlich, aus der Ausnüchterungszelle drangen seltsame Geräusche herüber, das aggressive Klappern eines Fensters, das Grunzen eines Schweines, das Zungenzischen einer Schlange, unverständliche Laute.
»Mein Papa macht wieder ein Krokodil nach und kriecht über den Boden, weil er Bauchschmerzen hat«, rief Quecksilber und blickte für einen Moment den Franzosen an, dessen Anwesenheit endlich in sein Bewusstsein gedrungen war. »Wer bist du?«, fragte er.
»Ich?«, staunte der alte Mann. »Du kennst mich doch – ich bin dein Großvater, der Eisenbahner aus Tschenstochau … Der Hofgeigenspieler und Schreiberling des Königs von Warmia und Masuren!«
»Der Schlag soll mich treffen!«, rief Quecksilber vor lauter Begeisterung und Herrn Lupickis Redensart nachahmend. »Du arbeitest wirklich für die Eisenbahn?«
Sie konnten ihr Gespräch nicht fortsetzen, denn die Geräusche in der Ausnüchterungszelle hatten an Lautstärke zugenommen. Der Vater überschwemmte langsam wieder die Wohnung.
Ich töte ihn morgens und abends, ich tue es jeden Tag, und er lebt dennoch weiter, sang Bartek im Geiste sein altes rebellisches Lied.
Stasia musste sich nun um ihren Mann kümmern. Sie holte aus dem Badezimmer ein Handtuch, das sie kurz ins kalte Wasser getaucht hatte, um Krzysieks brennende Stirn zu kühlen − es würde gar nicht so einfach sein, ihn wieder zum Schlafen zu bewegen, solche Nächte konnten dann plötzlich sehr kurz werden, die sinnlosen Diskussionen mit dem Trunkenbold unerträglich lang und ermüdend. Stasia bat den Franzosen um Hilfe und ging zusammen mit ihm und ihren Söhnen, quasi mit ihrer Leibgarde, zu Krzysiek: Der besoffene Unruhestifter hockte in der Ausnüchterungszelle auf dem Fußboden und ballerte mit der Faust gegen die Kleiderschranktür, sodass die Knöchel seiner linken Hand zu bluten anfingen, und brüllte: »Ich werde hier alles kurz und klein hauen! Und dann drehe ich dieser Schlampe den Hals um und reiße ihr die Eingeweide heraus!«
Ein Glück, dass an diesem Abend der Opa Franzose da war. Vor einem seltenen Gast hatte Krzysiek schon immer Respekt gehabt. Und obwohl er den Franzosen hasste, bemühte er sich, bei seinem Schwiegervater den Eindruck zu erwecken, in den letzten Jahren viel gelernt zu haben und ein Mann von Welt geworden zu sein.
»Teile deinen Schmerz mit mir, mein Sohn«, sagte der Franzose. »Sei tapfer!«
Krzysiek legte seinen Kopf auf den Schoß des Schwiegervaters und heulte: »Ich bin nicht mehr so ein mieser Kerl wie einst! Deine Tochter ist das schönste und klügste Mädchen von Dolina Ró ż , und ich beschuldige sie andauernd der Untreue, dabei ist sie die beste Ehefrau, die je unter der Sonne gelebt
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