Der Lippenstift meiner Mutter
Schmuck und aufwändig geschneiderte Kleider aus teuren Stoffen; sie behaupten, Knechte ihres Gottes zu sein, des einzigwahren Schöpfers aller Lebewesen und Dinge.« Der Fremde würde aber noch etwas anderes entdecken: eine Schlange vor masarnia , dem Fleischerladen am Marktplatz von Dolina Ró ż . Und dem unsichtbaren Beobachter, einem Vegetarier, fehlte wohl jedes Verständnis dafür, dass alte Frauen mitten in der Nacht aufstehen und sich in der Kälte abquälen müssen, um am frühen Morgen ein bisschen Schweinefleisch, Koteletts und Mett für ihre faulen Töchter und Schwiegersöhne zu erbeuten.
Es tat Bartek gut, sich vorzustellen, dieser außerirdische neugierige Besucher im Orbit zu sein. Und im Grunde genommen fühlte er sich gar nicht wie jemand, der unter seinen Brüdern und Schwestern lebte, denn oft sagte er sich: Ich bin nicht von hier − ich komme wie Jimi Hendrix und Syd Barrett von den Sternen − die Schweineleber kommt von hier!
Das Schusterkind musste sich des Öfteren zusammen mit Oma Olcia in der Schlange vor der Fleischerei stundenlang in Geduld üben. Olcia nahm ihren Enkel gerne zum Anstehen mit, damit er sie hin und wieder vertreten konnte. Wenn ihr die Beine wehtaten und schwer geworden waren und die Kälte unerträglich wurde, ging sie für ein halbes Stündchen nach Hause, um sich ein bisschen auf dem Sofa auszuruhen. Und es kamen immer wieder Zeiten, in denen der tägliche Speiseplan äußerst bescheiden war. Wochenlang aß man dann nur Käse oder Geflügel, weil es in den Läden nichts anderes zu kaufen gab. Das hatte wiederum dazu geführt, dass Bartek irgendwann angefangen hatte, das Essen nur noch als notwendiges Übel zu betrachten. Die Monotonie des Speiseplanes wirkte sich bei seinem Freund Anton dagegen ganz anders aus: Er redete andauernd vom Essen und davon, dass er ständig Hunger hätte. Dabei ging es ihm gar nicht schlecht, seine Eltern konnten sich alles leisten, und ein Schwein wurde bei ihm zu Hause nicht nur zu Weihnachten geschlachtet.
Barteks kulinarischer Alptraum war die gebratene Schweineleber, die einmal in der Woche von der Großküche der Grundschule, an der seine Mutter Geschichte unterrichtete, im meist überfüllten Speisesaal serviert wurde. Ab und zu ging er dorthin und aß zusammen mit seinem Bruder zu Mittag. Die Schweineleber troff vor Fett und war gleichzeitig so zäh, dass man die abgebissenen Stücke lange kauen musste und nur mit Widerwillen herunterwürgen konnte.
Die Fleischerei am Marktplatz befand sich fast durchweg im Belagerungszustand: Wer wenig Geld und keine Beziehungen oder Verwandten auf dem Lande hatte, musste in den nicht aufhören wollenden Schlangen stehen. Dafür blühte der Tauschhandel mit den Marken für Fleisch, Wodka, Zucker und Zigaretten. Oma Olcia rauchte nicht und konnte dadurch nach einem Markentausch mehr Fleisch kaufen − sie kaufte es aber nicht für sich, sondern für ihre Töchter und Schwiegersöhne.
Die Fleischerei sah sich in bester Gesellschaft: Es gab hier eine Apotheke, eine Drogerie, einen Buchladen, einen Kiosk, eine Bäckerei und ein kleines Kleiderkaufhaus. Für die aus der gefliesten Wand hervorstechenden Haken, an denen normalerweise Wurstwaren, Speck und Schweinehälften hätten hängen müssen, waren die anderen Läden jedoch keine Konkurrenz. Denn hier tobte der Krieg der Schlachter, hier herrschte die reine Wahrheit, so schien es Bartek, hier durfte man morden, und das eigentliche Ziel des Lebens, nämlich der Tod, wurde im Fleischerladen nicht eine Sekunde verleugnet.
Hinter der Ladentheke standen weiße Kittel, die selten gewaschen wurden. In diesen blutbeschmierten Kitteln steckten entweder junge Frauen oder alte und längst dem Tod geweihte Weiber, die nur eine einzige Aufgabe zu erfüllen hatten: ihre verbliebene Arbeitszeit bis zur Rente gemütlich abzusitzen wie eine Gefängnisstrafe. Die Verkäuferinnen trugen auf ihren Köpfen weiße Mützen oder braune Haarnetze, lackierten sich während der Arbeit die Fingernägel, tranken pausenlos Kaffee nach türkischer Art oder schwarzen Tee und verschwanden für lange Zigarettenpausen im Umkleideraum. Den Kleinkindern jagten sie Angst ein: Für sie waren sie Hexen, die einen Menschen in ein Schwein verwandeln konnten. Und die hungrigen Kunden wurden von den Verkäuferinnen selbst dann nicht bedient, wenn eine neue Lieferung von Schweinehälften, schlesischen Wurstwaren und gar ganzen Schweineköpfen von einer Fleischwarenfabrik gekommen war: Die
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