Der Lippenstift meiner Mutter
dem Schmuck- und Kosmetikaltar seiner Tochter, und begann zu erzählen: »Bartek! Hast du dich je gefragt, wie du gezeugt wurdest? Bestimmt! Als ich in deinem Alter war, ließ mir die gleiche Frage, meine Zeugung betreffend, keine Ruhe. Leider bekam ich darauf nie eine Antwort, obwohl meine Recherchen sehr umfangreich waren. Und bis heute stelle ich mir vor, wie meine Mutter auf dem Postamt nach dem Direktor verlangt, weil sie sich beschweren will … Ich wurde als eine Postkarte geboren, ein Telegramm. Auf dem Postamt muss die Empfängnis stattgefunden haben. Und wenn du willst, verrate ich dir, wie du gezeugt wurdest. Die Entscheidung liegt allein bei dir!«
Bartek richtete sich auf und sagte, auf dem Schlafsofa aufrecht sitzend: »Du meinst, du könntest mir ein großes Geheimnis verraten? Doch du irrst dich. Ich weiß, wie es in meinem Fall war. Ich bin das Kind des 1 . Mai. Es geschah am 1 . Mai in der Totenkammer der Schusterwerkstatt. Der Lippenstift meiner Mutter drang in den jungen Mann, der mein Vater werden sollte, ein und füllte seinen hohlen Körper vollkommen aus wie ein Lavastrom. Krzysiek leistete zu der Zeit in der Gelben Kaserne den Grundwehrdienst und hatte an dem Tag frei. Opa Monte Cassino gab ihm den Schlüssel der Schusterwerkstatt, weil sein Sohn die von Herrn Lupicki reparierten Halbschuhe für das Fest anziehen wollte.«
»Du hast mich überzeugt, so könnte es gewesen sein«, entgegnete der Franzose. »Willst du nun meine Version hören?«
»Ja! Bloß − Meryl schläft tief und fest, und ich möchte sie nicht wecken. Also dann ein anderes Mal! Mein Mädchen darf nichts verpassen!«
Barteks Opa schien nicht enttäuscht zu sein. Er drückte die Zigarette aus und legte sich in Unterwäsche zu seinem Enkel. Seine Muskeln waren schlaff, die Knochen kantig und hervorstehend, aber dafür hatte er keinen Hängebauch. Sein Körpergeruch ließ das Schusterkind rätseln. Es überlegte lange, an was dieser markante Duft es erinnerte. Eine Erleuchtung kam Bartek erst dann, als er an den morgigen Tag und seine Pflichten dachte. Wie jeden Dienstag musste er morgen am praktischen Unterricht in den Werkstätten des Mechanischen Technikums teilnehmen. Dort an der Luna bei der alten ostpreußischen Stahlbrücke setzten die Schüler Türschlösser zusammen, an denen es allerdings bei dem Eisenwarengeschäft von Dolina Ró ż keinen großen Bedarf gab, da sie nie richtig funktionierten und andauernd repariert werden mussten. Sie lernten auch, Bohrer zu schärfen. Opa Franzose roch wie die Metallspäne, die beim Bohren und Drehen an der Drehmaschine entstanden.
Ein Eisenbahner muss nach frisch bearbeitetem Eisen riechen, dachte das Schusterkind, ehe ihm die Augenlider zufielen.
»Wovon hast du geträumt?«
Bartek hörte diese Frage deutlich, sie war real, genauso real wie der Opa Franzose, mit dem er im Arbeitszimmer der Mutter übernachtet und der ihm die Frage gestellt hatte. Jetzt, in Barteks Traum, schien taghell die Sonne, und das Schusterkind suchte in dem Schmuckkästchen seiner Mutter nach passenden Ohrringen. Opa Franzose probierte nagelneue Winterstiefel von Herrn Lupicki an. Seine Lippen waren rot geschminkt.
»Der Sommer steht vor der Tür!«, sagte das Schusterkind. »Wozu die Stiefel?«
»Aber ich muss dich verlassen. Und dort, wohin ich gehe, liegt ewiger Schnee«, meinte der Franzose und wiederholte seine Frage: »Wovon …«
Er wurde von seinem Enkel unterbrochen, der sagte: »… ich träumte wieder einmal von den unbekannten Männern, die fußknöchellange schwarze Wintermäntel und Baskenmützen auf dem Kopf tragen. Von Zeit zu Zeit klingelt einer von ihnen bei uns an der Tür und redet mich in einer Sprache an, die ich nicht verstehe. Ist es Französisch? Wer sind diese Männer? Und was wollen sie von mir?«
Kapitel 7: »The Dark Side of the Moon« und die Frage »Nofe?«
Wenn ein fremder Besucher in einem Raumschiff im Orbit um die Erde kreisen würde, um durch ein Fernrohr die Erdlinge zu beobachten, würde er Unglaubliches zu sehen bekommen. Er würde greise Männer entdecken, die in prachtvollen Gewändern und mit ehrfurchteinflößenden Kopfbedeckungen vor Gläubigen Predigten hielten. Der fremde Besucher würde stutzen über die zahlreichen Anhänger der Priester und ihrer Götter, um dann in seinem Logbuch Folgendes zu notieren: »Manche Erdlinge beten Kreuze an, andere wiederum mehrarmige Sterne oder einen Halbmond; die Priester sind meistens männlich und tragen
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