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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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weißen Kittel ließen sich mit dem Auspacken der Köstlichkeiten Zeit; sie sahen ihre Kunden als Schmarotzer und Unruhestifter an, und sie bedienen zu müssen, war ihnen ein Grauen.
    Wenn Bartek auf den Straßen von Dolina Ró ż unterwegs war, stellte er sich manchmal vor das Schaufenster der Fleischerei und genoss den Anblick, der sich ihm an den gefliesten Wänden und auf dem von Fliegen belagerten Ladentisch bot. Er war fasziniert von den Augen der toten Schweine. Sie schienen ihm gar nicht tierischen Ursprungs zu sein, sie hätten auch von einem Menschen stammen können, und die Frage, die dem Schusterkind keine Ruhe ließ, war folgende: Warum konnte man im Fleischerladen kein Menschenfleisch kaufen? Er fragte sich sogar, wen er am liebsten schlachten lassen würde. Er musste nie lange überlegen, die Antwort fiel ihm stets leicht ein, und Bartek war erschrocken, dass es so viele Personen waren, die er gerne der Obhut der Schlachter übergeben würde: Die weißen Kittel, vor allem die beleibten alten und hochnäsigen Verkäuferinnen, aber auch seinen Vater würde er zuallererst opfern wollen, und Herrn Micha ł Kronek auch, weil er andauernd auf Opa Monte Cassino herumhackte, und die Schuldirektoren und die Lehrer vom Mechanischen Technikum, vor allem den Physiklehrer, der die Schüler wie seine Leibeigenen behandelte – sie mussten alle Definitionen, Wort für Wort, auswendig lernen; es war nicht wichtig, ob die Schüler sie verstanden; jeder Schüler musste sich nach der mündlichen Befragung durch den Physiklehrer selbst beurteilen und seine Note vor der Klasse laut sagen; sie wurde anschließend in das Klassenbuch eingetragen; den Physiklehrer würde Bartek eigenhändig zur Schlachtbank führen, weil er über seine Schüler sagte, dass sie nichts weiter als aus Molekülen und Atomen zusammengeballte Klumpen seien, die niemandem einen Nutzen bringen und eher für unaufhörlichen Ärger sorgen würden.
    Einmal musste Opa Monte Cassino, der schon seit vielen Jahren die Hanka-Sawicka-Gasse nicht mehr verlassen hatte – er pendelte bloß jeden Tag zwischen seinem Haus und der Werkstatt von Herrn Lupicki, fuhr aber nicht mehr mit seinem Rollstuhl durch das Kreuzrittertor zum Markplatz, um einzukaufen oder Bekannte zu treffen −, einmal musste er Bartek zum Fleischerladen begleiten, weil ihn sein Enkel um diesen Gefallen angefleht hatte. Der alte Mann mochte es nicht, wenn jemand seinen Rollstuhl schob und durch die Straßen navigierte. Also spuckte er in die Hände und strengte sich bei jedem Meter an, was für seine kräftigen Arme eine leichte Übung war. Das Schusterkind hatte ihm erzählt, im Schaufenster des Fleischerladens würde ein menschlicher Kopf liegen. Monte Cassino war über den makabren Scherz seines Enkels so verärgert, dass er Barteks abstruse Bitte erfüllte, um ihm zu beweisen, dass er wirklich verrückt sei.
    »Ich werde deinen Vater, und du weißt, dass er ein bissiger Hund ist«, sagte Monte Cassino, »auf dich hetzen, damit er dir den Teufel, der von deiner Seele Besitz ergriffen hat, austreibt. Wir bei uns in Dolina Ró ż essen kein Menschenfleisch, nicht einmal im Krieg haben wir es getan, obwohl uns der Hunger zu wilden Tieren gemacht hat.«
    »Ich weiß doch, was ich gesehen habe«, meinte Bartek. »Es war der Kopf von einem dieser Landstreicher, die selbst im Sommer ihre schwarzen Wintermäntel nicht ausziehen. Sie bewohnen an der Luna die kaputten verlassenen Bauwagen. Manchmal klingeln sie an unseren Türen im Plattenbauquartier und betteln. Und die Verkäuferinnen im Fleischerladen haben dem Geköpften nicht einmal seine dreckige Baskenmütze abgenommen!«
    Es war einer jener seltenen Sommertage, an dem jederzeit ein heftiger kurzer Sturm ausbrechen und innerhalb von wenigen Minuten das Städtchen in eine einzige riesige Pfütze verwandeln konnte. Dann prasselte der stürmische Regen plötzlich vom Himmel, um sekundenschnell alle Passanten so zu durchnässen, dass sie zu Hause ihre Kleider auswringen mussten. Ein Schweinekopf, bedeckt mit einer schwarzen Baskenmütze, blickte im Schaufenster des Fleischerladens Bartek und seinen Opa keck an.
    »Bring mich nach Hause!«, sagte Monte Cassino.
    Es war das erste und einzige Mal gewesen, dass er sich in seinem Rollstuhl von Bartek hatte schieben lassen, obgleich nur für wenige Meter.
    »Ich werde dich persönlich verprügeln, das schwöre ich, wir brauchen dazu deinen Vater nicht!«, ärgerte sich Barteks Opa, der nun seinen

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