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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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Tagesordnung. Selbst an den in Dolina Ró ż rar gewordenen Sommertagen, wenn Krzysiek mit den Arbeitern der Wirkwarenfabrik einen Ausflug machte oder in den Urlaub gefahren war, spürte man deutlich seine Anwesenheit, vor allem den aggressiven Geruch seines Schweißes. Und erstaunlich war die Tatsache, dass der Vater dem Schusterkind unsterblich vorkam. War eine Überschwemmung überstanden, kam sofort die nächste. Wie ein Demiurg erfand sich der Vater Reinkarnation für Reinkarnation, Bild für Bild, Überschwemmung für Überschwemmung neu. In diesem Spiegelkabinett gab es keinen Ausgang, die Suche nach Rettung war vergeblich, da der Vater meistens wie aus dem Nichts auftauchte, um die nächste Überflutung herbeizuführen.
    Die Wohnung von Barteks Eltern war genauso geschnitten wie die von Natalia Kwiatkowska: Küche, Bad, Balkon und, wie es Herr Lupicki sagen würde, drei Gefängniszellen – zum Sterben zu groß, zum Leben zu klein. Und auch hier war es stockfinster und totenstill. Die feinen Schatten, die durch das Kerzenlicht entstanden, krochen bei jeder Körperbewegung an den Wänden und Decken herum, als würden sie nach einem Unterschlupf suchen. Der Unterschied zu dem botanischen Garten im Erdgeschoss bestand darin, dass in diesen bescheiden möblierten Räumen ein süßlicher Geruch in der Luft schwebte, den man, wenn er sich einmal in der Nase eingenistet hatte, nicht mehr los wurde. Dieser Geruch war eine explosive Mischung aus den Ausdünstungen des Vaters und dem penetranten Parfümduft der Mutter.
    Stasia führte den Franzosen und Bartek in ihr Arbeitszimmer, wo schon das Schlafsofa hergerichtet war. Sie mussten die ganze Zeit im Flüsterton sprechen und bei jeder Bewegung und jedem Schritt leise sein, weil der Vater nicht geweckt werden durfte. Er war betrunken und schlief in Barteks Bett − in dem engen Zimmer, das sich das Schusterkind mit seinem zehnjährigen Bruder Quecksilber teilte, der auch sein eigenes Bett besaß. Dieser Raum war eine Art Ausnüchterungszelle, vorausgesetzt, dass es Quecksilber gelungen war, den Vater milde zu stimmen und zum Schlafen in einem der Betten seiner Söhne zu überreden, worin, in dieser hohen Überredungs- und Zähmungskunst, der Zehnjährige im Laufe der Jahre ein Meister geworden war. »Du bist mein Ein und Alles. Unsere Regierung und deine Mutter können nur lügen und betrügen, aber du nicht, Quecksilber. Und wenn du groß wirst, übernimmst du von unserem Direktor Szutkowski die Fabrik, und die Arbeiter werden dir gehorchen und dich ehren!«, prophezeite er seinem kleinen Sohn, wenn er wieder einmal blau war. Der Vater schnarchte und sprach ab und zu im Schlaf ungereimtes Zeug. Seine Kämpfe gegen die weiblichen Dämonen, die der Mörder Baruch dem Schusterkind austreiben wollte, gingen im alkoholisierten Traum von Krzysiek weiter.
    Stasia war verärgert, dass der Franzose so spät in der Nacht zu ihnen nach Hause gekommen war. Sie hatte sich Sorgen gemacht und berichtete jetzt, dass Herrn Lupickis Werkstatt schon geschlossen gewesen wäre, als Krzysiek nach dem Heimkehrer − erst nach ihm, dann auch nach Bartek − in der ganzen Stadt gesucht hätte. Dabei wäre ihr Mann irgendwann im Piracka gelandet, wo er mit seinen beiden Schwagern die Ankunft des untreuen Schwiegervaters gefeiert hätte, zumindest laut seines verwirrenden Berichts, den er ihr lallend und fluchend erstattet hätte.
    »Franzose! Du schaffst es immer wieder, dass man mit dir Mitleid hat«, sagte Stasia. »Ich werde dich nicht auf die Straße zurückschicken, in diese erbarmungslose Kälte. Ich habe für dich sogar ein paar gebrauchte Hosen, Hemden und Sakkos aus den Paketen, die wir alljährlich zu Weihnachten aus der BRD bekommen, zurückgelegt. Du solltest die Sachen anprobieren.«
    Plötzlich fiel sie dem alten Mann um den Hals, dann, genauso jäh, ließ sie ihn los und machte zwei Schritte rückwärts. Seine Eisenbahneruniform hatte ihr noch nie gefallen. Sie wusste, dass der Franzose kein Geld hatte, doch selbst wenn er welches hätte, würde er es nie für neue Kleider ausgeben, sondern eher für ein Vergnügen, für ein Rendezvous mit einer Frau oder für Bücher.
    Der Karton mit den Hosen, Hemden und Sakkos aus den westdeutschen Weihnachtspaketen schien ihn nicht zu beeindrucken, obwohl er sich auf die Sofakante setzte und, auf der Suche nach etwas Passendem, in ihm zu wühlen begann.
    »Ich bin kein Bettler! Und ich werde keine Hemden und Hosen von ehemaligen Feinden

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