Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
Vom Netzwerk:
Rollstuhl allein durch den heftigen Regen navigierte. »Was bin ich denn überhaupt für ein Blödian, dass ich mich immer wieder auf deine Hirngespinste einlasse?!«
    Drei Tage lang sprach er mit seinem Enkel nicht, der wie immer nach der Schule in der Werkstatt von Herrn Lupicki vorbeischaute und für eine ausgedehnte Hausaufgabensitzung und Diskussionsrunde blieb. Am vierten Tag sagte Monte Cassino: »Über den Tod macht man keine Scherze, Schusterkind.«
    »Du hast mir solche Tändeleien mit dem Teufel beigebracht!«
    In der Tat erlaubte sich Monte Cassino ab und zu so einiges an vergnüglichen Bösartigkeiten, was nicht immer auf Gegenliebe der von seinen Späßen Betroffenen stieß. Den Weihnachtsbaum bei sich zu Hause und den in der Schusterwerkstatt schmückte er mit gestohlener Damenunterwäsche und mit Würstchen, die Schuhe der weiblichen Kunden bestückte er mit fiktiven Liebesbriefen, Herrn Lupicki und Micha ł Kronek ließ er einmal ein Telegramm aushändigen, die eigene Todesnachricht:
    Monte- STOP -Cassino- STOP -ist- STOP -heute- STOP -gestorben
    Nachdem Bartek aufgewacht war, stellte er fest, dass die Eisenbahneruniform und die Halbschuhe von Opa Franzose nirgendwo zu entdecken waren. Die Mutter meinte, er hätte schon gefrühstückt und wäre in großer Eile aufgebrochen. Wahrscheinlich war er längst bei Oma Olcia und flehte sie um Vergebung und Beherbergung an. Später würde er wohl zu Herrn Tschossnek gehen, um sich die Haare schneiden zu lassen. Dieses Haareschneiden würde den ganzen Tag dauern, denn die beiden Männer würden Schach spielen, eine Partie nach der anderen, da Herr Tschossnek seine Frau wieder zurückgewinnen wollte. Er hatte sie vor vielen Jahren an den Franzosen verloren, mit dem er um Geld gespielt hatte. Barteks Opa gewann damals alle Partien, brachte es aber nicht übers Herz, einen ehrenvollen Mann finanziell zu ruinieren. Und was sollte er schon mit einem Frisiersalon anfangen? Und so nahm er sich Gosia, die verschmitzte und liebesdurstige Frau Tschossnek, zur Geliebten − und jedes Mal, wenn er in Dolina Ró ż weilte, musste Gosia ihm zu Diensten sein. Ihr Mann willigte in dieses Geschäft ein, das ihn schnell zum Gespött machte.
    Das kurze Gespräch nach dem entscheidenden Schachmatt würde Bartek, der zufällig dabei gewesen war, nie vergessen. Der Franzose sagte: »Leih mir gelegentlich deine Frau aus, und wir lassen über die ganze Sache Gras wachsen!« − »Du bist ein Hurenbock«, heulte Herr Tschossnek.
    Der Vater war nun auch wach geworden und hatte sofort einen Wutausbruch auf die Kommunisten bekommen, auf ihre Methoden, ihre Aushungerungspolitk. Seine Wut hatte er jedoch wie immer nicht an denen, die er beschuldigte, ausgelassen: »Stasia! Wann besorgt deine Mutter endlich mal ein oder zwei Kilo Krakauer oder Schlesische? Ich kann den Edamer und die zwyczajna nicht mehr sehen!«, schrie er seine Frau an und ging hungrig zur Arbeit.
    Kurz nachdem der Vater zornig nach draußen gerannt war, schnappte sich die Mutter ihre Handtasche und Quecksilber bei der Hand und verließ, da sie sich fast jeden Morgen zur ersten Unterrichtsstunde verspätete, genauso überstürzt wie ihr hungriger Gemahl die Wohnung, eingemummt in ihren dicken Pelzmantel mit einer üppigen Kapuze. Und obwohl sie sehr in Eile war, war sie glücklich, weil sie dem Geschrei ihres Mannes für den Rest des Tages entfliehen konnte. Das Schusterkind freute sich auch jedes Mal, wenn die Überschwemmungen zum Stillstand gekommen und die Gesetze des Wassermanns nicht mehr gültig waren.
    Die Grundschule, an der Barteks Mutter unterrichtete, hatte das Schusterkind bis zur achten Klasse besucht. In Polnisch, Russisch, Geschichte und Kunst war Bartek unschlagbar gewesen. Umso größer war seine Verwunderung, als er von seinen Eltern erfahren hatte, dass er sich für die Aufnahmeprüfungen für das Mechanische Technikum würde vorbereiten müssen. »Der Junge ist eine Krankheit!«, belferte damals der Vater. »Der Beruf des Technikers für landwirtschaftliche Maschinen wird ihn von seiner Neigung zum Phantasieren heilen!« Genau genommen hatte der Vater ein anderes Wort fürs Phantasieren im Visier gehabt und benutzen wollen, aber in letzter Sekunde hatte er sich auf die Zunge gebissen: Das andere Wort machte Barteks Vater Angst, denn immerhin handelte es sich um seinen eigenen Sohn, von dem er sich nicht vorzustellen vermochte, dass Bartek – sein eigen Fleisch und Blut − von kurzen Spaziergängen

Weitere Kostenlose Bücher