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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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ein neues intelligentes Leben gebiert. Das würde ich ihm jedoch, speziell in deinem Fall, nicht wünschen. Deine Hände sind nämlich dreckig – vom Kugelschreiber eines dummen Schülers, von den Schuhen, die deine Eltern tragen, und vom Öl der Drehmaschinen, die du putzen musst. So sieht es auch in deinem Kopf aus: Er ist voller Müll, deshalb sind deine Gedanken keine richtigen Gedanken, sondern so etwas Ähnliches wie Autounfälle oder Verkehrsbehinderungen. Und nun geh!«
    Bartek wollte sich auch sofort auf den Weg machen, zumal er die Bemerkungen der Stalinistin als zynisch und beleidigend empfand, doch plötzlich packte sie ihn an der Schulter und sagte: »Richte dem Franzosen aus, dass ich ihm helfen werde: Seine Tochter kann bei mir einziehen, zumindest für den Anfang …« Eine der an ihrem Gesicht klebenden Gurkenscheiben fiel plötzlich ab und landete auf Barteks Schuh. Er nickte verständnisvoll, hob das Scheibchen auf, steckte es in den Mund, kaute darauf herum und sagte: »Sie können sich auf mich verlassen, Frau Natalia, ich werd’s ihm ausrichten! Auf Wiedersehen!«
    Die ehemalige Physiklehrerin war so verunsichert über Barteks Benehmen, dass sie ihn offenen Mundes und ohne Kommentar gehen ließ. Auf der Straße fing Bartek an zu spucken – die Gurke hatte ihm nicht geschmeckt, sein Gaumen und seine Zunge brannten, als hätte er einen Wodka getrunken.
    Was er getan hatte, war im Affekt geschehen, klar, und er bereute seine Reaktion nicht. Tja, dachte er, als er die Plattenbausiedlung verließ, vielleicht wollte ich der alten Dame zeigen, dass ich gar nicht so dumm und langweilig bin, wie sie meint – die blöde Kuh hält sich für eine ganz Ausgefeimte; weiß sie nicht, dass Götter nicht mögen, wenn man sie nachahmt?!
    Der Himmel, behangen mit schneeträchtigen Wolken, verdunkelte sich von Minute zu Minute immer schneller, es war kurz vor sechzehn Uhr, die Nacht meldete sich mit ihrer ganzen Kraft zurück, und das Schusterkind wählte in der Kälte des rieselnden weißen Flockenstaubs wie gewöhnlich den kürzesten Weg zur Schusterwerkstatt. Bartek wollte Herrn Lupicki wenigstens »Guten Tag« sagen, bevor er dann weiterziehen würde: Er war schon sehr darauf gespannt, ob der Friseur Tschossnek seine Frau wieder zurückgewonnen hatte – obschon das Bartek sehr wundern würde. Immerhin hatte der Franzose in den Fünfzigern, in seinen jungen Jahren also, einige lokale Schachmeisterschaften gewonnen.
    Als Bartek in der Schusterwerkstatt ankam, stellte er verwundert fest, dass Herr Lupicki ganz allein war und nicht einmal seiner Arbeit nachging. Er stand am Tresen und las die Bibel. Sein Lieblingsevangelium war das nach Matthäus, und manche Passagen der »Bergpredigt« las er sogar laut vor, besonders dann, wenn sein Sohn neben ihm saß, um mit offenem Mund geduldig zuzuhören. Zu den Schuhen, die zur Reparatur gebracht wurden, sagte er oft: »Ihr seid das Salz der Erde …«
    »Schusterkind!«, freute sich Herr Lupicki und klappte die Bibel zu. »Der Franzose spielt mit Tschossnek Schach, und alle wollen den beiden Verrückten zuschauen, selbst der brave Soldat einer geschlagenen Armee, dein Opa Monte Cassino. Ich halte hier die Stellung, aber meine Kunden haben etwas Besseres zu tun: Sie sind treue Fans des Franzosen und applaudieren dem Heimkehrer, der wieder gewinnt. Norbert informiert mich alle halbe Stunde über den Spielstand.«
    Bartek schwieg, und der alte Schuster seufzte und fixierte mit seinem Blick das Holzkreuz mit dem von ihm selbst geschnitzten Jesus Christus, der über den Wartebänken für die Kunden die grün gestrichene Wand schmückte. Herr Lupicki sagte nach einer Weile: »Ich werde in meiner Werkstatt sterben, das weiß ich, im Sitzen wird es passieren, mit einer Zigarette im Mund werde ich den Löffel abgeben, nach Feierabend, vielleicht wird es sogar in der Totenkammer passieren, vielleicht. Doch warum soll ich dich langweilen! Geh lieber zu Tschossnek und sieh dir seinen Untergang an! Und deine Oma Hilde sucht dich überall! Sie muss morgen aufs Milizrevier zum Dolmetschen; die Offiziere der Miliz haben heute einen deutschen Touristen gefasst und eingebuchtet. Er hat unseren Bahnhof und die Gelbe und Schwarze Kaserne fotografiert. Ein Idiot! Weiß er nicht, dass wir Feinde sind? Hüben wie drüben! Hilde sagte, dass der Deutsche gar nicht in seiner Heimat lebe, sondern in Amerika, schon seit zig Jahren. Das macht die ganze Sache noch schlimmer. Jetzt denken unsere

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