Der Lippenstift meiner Mutter
Dummköpfe, sie hätten einen einstigen Nazi und amerikanischen Spion zugleich gefasst. Na, jedenfalls hat Hilde den Offizieren angekündigt, dass sie ohne ihren Enkel, und das bist du, nirgendwohin gehen wird, und unsere Dummköpfe haben ihrem Vorschlag zugestimmt: Du kommst morgen zum Dolmetschen mit! Und das können viele Verhöre werden!«
Dem Schusterkind schossen die Augenbrauen in die Höhe, seine Stirn bedeckte sich mit drei fetten Runzeln – es war perplex und fragte: »Die haben tatsächlich einen Nazi und CIA -Agenten hinter Gitter gebracht? Bei uns in Dolina Ró ż ? Unglaublich!«
Die Nachricht von einem Spion aus dem Westen versetzte Bartek in höchste Aufregung, sodass er sogar für einen Augenblick seinen Opa Franzose und die Schachpartie im Frisiersalon von Herrn Tschossnek vergaß. Für einen Moment schwebte er im Orbit wie der glückliche Außerirdische, in dessen Rolle er manchmal hineinschlüpfte und der von seiner Stippvisite im Sonnensystem in seinen Sterntagebüchern verwundert über die Bräuche der Menschheit berichtete. Und Bartek dachte auch an all die amerikanischen Filme, die er im Kino Zryw gesehen hatte. Er fühlte sich wie einer der ganz großen unvergesslichen Actionhelden, und an seiner Seite kämpfte Meryl Streep gegen das Gesetz und für die Freiheit der Anarchisten. Sie fletschte die Zähne, schrie und lachte, entlud die Pistole, schoss auf einen Polizisten, und dann flohen sie mit ihrem gestohlenen Fahrzeug in die entlegene Prärie, um sich zu verstecken. Bartek sagte Herrn Lupicki nicht einmal »Auf Wiedersehen!«. Er rannte zurück auf die Straße, zurück in den Schnee, der über dem zugespitzten Dach des mittelalterlichen Tors wütete. Im abendlichen Wind flatterten chaotisch dicke Schneeflocken – wie riesige weiße Heuschreckenschwärme. Vom Marktplatz her stieg in die Höhe schwaches gelbes Licht der Einkaufsläden, die erst am Abend, um sechs oder um sieben, schlossen; ihre Schaufenster leuchteten zusammen mit den Straßenlaternen und schenkten den Passanten Hoffnung auf die Rückkehr jungfräulicher Frühlingstage, an denen der Fleischerladen, die Apotheke, die Drogerie, die Boutiquen und das kleine Kleiderkaufhaus aufblühten und zum spontanen Einkauf einluden, obwohl ihr Warenangebot bescheiden war. Das gelbe Marktplatzlicht erreichte das Spitzdach des mittelalterlichen Tors − ein Wunder, dass dieses schwache Licht zu solchen Leistungen fähig war. Doch die Nacht besaß erstaunliche Kräfte, und rings um den Marktplatz herrschte sie, die ewige Nacht des Winters, der schwarze Fluss, der das Städtchen besonders dann überflutete, wenn die Regierung wieder einmal die Stromlieferung verweigerte. Im Zentrum von Dolina Ró ż , in der Nähe des mittelalterlichen Tors und der Einkaufsläden, war es also selbst im Winter nicht so unangenehm stockfinster wie an den Randzonen des Städtchens. Die hiesigen Lichterquellen waren zahlreicher und stärker als diejenigen in den Plattenbausiedlungen und in den alten Vierteln mit den Einfamilienhäusern, die einst Juden oder deutsche Wehrmachtsoffiziere bewohnt hatten. Am Abend begann in den Wohnzimmern auch noch das violette Schimmern der Fernsehmonitore, das aber nicht so gefährlich war wie das Licht der Operationssäle im Johanniter-Krankenhaus, dieses Licht des Todes, das jeden Tag durch das Städtchen marschierte, jeden Tag neue Bewohner von Dolina Ró ż mit auf die Reise zum Friedhof an der Luna nahm, die Alten, die Kranken, die Debilen, die Unvorsichtigen, die bei Unfällen gestorben waren – wie die brennenden Kühe auf der Straße oder wie die unvorsichtigen Arbeiter in den Fabriken. Auch Kinder und Babys, wie zum Beispiel Barteks und Quecksilbers kleines Schwesterchen Stasia, verschwanden gelegentlich in diesem Todeslicht von Dolina Ró ż . Quecksilber war als Zwilling auf die Welt gekommen – biologisch und in seinem Sternzeichen. Sein Zwillingsschwesterchen wurde tot geboren. In einem Sarg, der für eine Spielzeugpuppe geeignet war, hatte man die Kleine beerdigt. Auf dem alten Friedhof, den Bartek zusammen mit seinem Freund Anton jeden Tag auf dem Nachhauseweg überquerte, lag sie nun seit zehn Jahren in der katholischen Stille der kalten Gräber, Kerzen und Chrysanthemen, getauft auf den Namen der Mutter, verkleidet als Spielzeugpuppe. Einmal im Jahr, meist zu Allerseelen, schenkte Bartek seinem Schwesterchen einen neuen Lippenstift, damit sie sich im Himmel für den Gottvater hübsch machen konnte. Er legte
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