Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
Vom Netzwerk:
im Krieg, dass selbstsüchtige und eigennützige Menschen weniger Glück gehabt hätten als gottesfürchtige und selbstlose Zeitgenossen.
    In der St.-Johann-Kirche blieb Bartek dennoch nicht lange: Immer wieder vergaß er, dass in der Kirche eine betrübliche Stimmung herrschte. Jesus Christus weinte zusammen mit seiner Mutter Maria über die Kreuzigung der Menschheit und des Weltalls, das, wie ihm Opa Franzose einmal erzählt hatte, genauso aussehen und funktionieren würde wie der menschliche Körper. Was der Franzose mit dieser Umschreibung meinte, war Bartek nicht klar, doch das spielte für ihn keine Rolle, ob sein Opa wirklich mehr wusste als ein Normalsterblicher, denn sobald das Schusterkind die Kirche betreten, sich bekreuzigt und den Altar erblickt hatte, musste es wieder so schnell wie möglich diesen traurigen Ort verlassen, an dem die Pfarrer von der ewigen Verdammnis selbst für kleine Vergehen predigten. Für Bartek war es schwierig zu begreifen, dass auch ihn die langen Schatten der Erbsünde erfassen und bedrohen würden. Er fühlte sich nicht krank und schuldig, und für die Streiche Adams und Evas und aller anderen Generationen wollte er nicht den Sündenbock abgeben, und schon gar nicht für die Taten der Fabrikdirektoren, der Lehrer vom Mechanischen Technikum oder der Väter, die ihre Wohnungen mit Genuss überfluteten.
    Bartek musste sich ein anderes Plätzchen zum Beten suchen, was gar nicht so einfach war. In der Werkstatt von Herrn Lupicki betete er gerne in der Totenkammer, in der er manchmal ein bisschen Ruhe fand, die toten Schuhe anstarren und in Gedanken Gebete formulieren und sprechen konnte. Er mischte die Gebete, die er im katechetischen Unterricht und bei Oma Olcia auswendig gelernt hatte, mit Zeilen und Versen, die ihm wie aus dem Nichts einfielen, vor allem beim lauten Sprechen:
    Vater unser, der Du bist im Himmel,
    Sieh mir in die Augen!
    Hier spricht Dein Arbeiter,
    Der Samstag für Samstag die Drehmaschinen
    Und die Schuhe seiner Mutter putzt!
    Erbarme Dich meiner!
    Vater unser, der Du bist im Himmel,
    Sieh mir in die Augen!
    Hier spricht der Lippenstift meiner Mutter!
    Sei ihm gnädig,
    Auch wenn er Dich beleidigt,
    Dein rosa Hurenkind!
    Die Bewohner des Städtchens sollten zu Herrn Lupicki kommen und beten, dachte Bartek, Dolina Ró ż braucht neue Kirchenhäuser, die so glücklich und gesprächig sein müssten wie die vergessenen Schuhe in der Totenkammer.
    Anton war beleidigt und schaute nicht einmal bei Herrn Lupicki vorbei. Er sagte beim Abschied vor dem Kino Zryw , dass er die St.-Johann-Kirche eines Tages – am besten nachts und kurz vor Weihnachten − in Brand stecken würde, um zu beweisen, dass es keinen Gott gab, weil nach dem Brand mit hundertprozentiger Sicherheit kein Wunder aus der Hand des Allmächtigen geschehen würde. »Du meinst wohl nicht, dass er vom Himmel herabsteigen und die Kirche mit seinen eigenen Händen wieder aufbauen wird …«, sagte Anton und grinste. »Wir sehen uns morgen!«
    Er ging nach Hause, und Bartek ging auch nach Hause, ohne die Drohung seines Freundes ernst zu nehmen. Bartek musste seinen Rucksack packen. Er brauchte ein paar frische Socken, Unterhosen und Hemden. Er war glücklich, dass er für die Zeit, vielleicht nicht für die ganze Zeit, aber immerhin für den Anfang des Aufenthaltes von Opa Franzose in Dolina Ró ż bei Oma Olcia wohnen würde. Bei ihr fühlte er sich so, als hätte er Schulferien, aber in einem erstklassigen Hotel – sie kochte Piroggen mit Heidelbeeren, Kohlrouladen oder schmackhafte Suppen, die besser waren als in einem angesehenen Restaurant: Gurken-, Tomaten-, Hühner-, Sauerkraut-, Steinpilze- oder Saure Mehlsuppe gab es bei Olcia zum Mittag. Sie hörte mit Bartek seine Musik und tanzte ab und zu mit ihm zusammen zu den wilden Neuguinea-Klängen. Er lachte sich kaputt, wenn sie sich mit den Moderatoren der Tagesschau oder einer anderen TV -Sendung unterhielt, als säßen jene nicht in einem Fernsehstudio, sondern bei ihr im Wohnzimmer. Oder sie stopfte Barteks Socken und sang dabei ihre Kirchenlieder. Nie zwang Olcia ihn zum abendlichen Beten, war jedoch die glücklichste Frau in ganz Polen, wenn ihr Enkel neben ihr niederkniete und rosenkranzartig die Gebete sprach, in ein und demselben Rhythmus wie Olcia. Ein Gebet würde nicht nur die Seele reinigen und ihr Flügel verleihen, meinte sie, ein Gebet sei wie ein gutes Mittagessen, das satt- und zufrieden mache. Doch das Wichtigste war, dass er sich bei

Weitere Kostenlose Bücher