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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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den Lippenstift auf die Grabsteinplatte, neben einen Kerzenleuchter. Oder er vergrub ihn in der Erde.
    In Oma Hildes Zwei-Zimmer-Wohnung im Parterre waren die Fenster dunkel, doch das hatte nichts zu sagen. Vielleicht weilte sie bei ihren Nachbarn. Bartek entschied sich, bei ihr vorbeizuschauen, um den morgigen Termin auf dem Milizrevier zu besprechen. Er besuchte nicht allzu gerne dieses alte, mit Jugendstilornamenten geschmückte Haus, das bis 1945 einer deutschen Familie gehört hatte, wie man sich erzählt. Vielleicht wurde sie von den Sowjets liquidiert, kurz nach dem siegreichen Einmarsch der Roten Armee in Rosenthal. Und es müsse eine bei den Bürgern recht angesehene Kaufmannsfamilie gewesen sein, die hier einst residiert habe, meinte Oma Hilde, auf keinen Fall seien es Nazis gewesen, niemand war ein Nazi in Rosenthal, so Hilde. Vielleicht hatte die deutsche Sippe die Grausamkeiten des Krieges überstanden, vielleicht lebte die ostpreußische Familie weiter, irgendwo bei Düsseldorf oder in Berlin, und vermehrte sich glücklich − aber was Bartek darüber dachte, war nicht wichtig: Die Welt interessierte sich nicht allzu sehr für seine Gedanken, Spekulationen und Meinungen. Er mochte jedoch das Haus seiner Großeltern väterlicherseits aus einem anderen Grund nicht: Monte Cassino behauptete nämlich, vor allem vor Kindern, denen er Angst einjagen wollte, in den Kellern und auf dem Dachboden würden sich immer noch Juden und Deutsche verstecken und als Dämonen und arbeitslose Engel in diesem Haus herumspuken und die Mieter, wie zum Beispiel Oma Hilde, in Angst und Schrecken versetzen, besonders nachts, wenn man auf die Gemeinschaftstoilette im Treppenhaus musste. Im Keller würden Juden wohnen, und die Ostpreußen seien auf dem Dachboden untergebracht, wo es wenigstens ein bisschen gemütlicher sei als in den Katakomben, in denen nie auch nur ein Strahl Sonne zu sehen sei. Bartek hatte in seinem Leben noch keinen Juden oder Wehrmachtssoldaten gesehen, auch nicht in Opa Monte Cassinos und Oma Hildes Haus, aber er fürchtete sich, ihnen zu begegnen. Er fürchtete sich, eines fernen Tages einer von ihnen zu werden, die in Dolina Ró ż gelebt, geliebt, gehasst, gelitten hatten und gestorben waren: ein Verlorener, der keine Spur hinterlassen hatte.
    Hilde war zwar ein geschwätziges Weib, doch mit ihrem Enkel redete sie nie länger als fünf Minuten. Im Grunde kreisten die Gespräche mit ihr um ein einziges Thema: das Schweinefleisch − entweder hatte sie vom Fleisch geträumt, was, wie sie behauptete, ein herannahendes Unglück ankündigte, oder sie musste am nächsten Tag in der Schlange vor masarnia anstehen und frisches Fleisch kaufen, damit sie für Monte Cassino das Mittagessen kochen konnte (Kartoffeln, ein paniertes Schnitzel, Rote-Beete-Salat und ein Glas Wodka waren für ihren Mann jeden Sonntag das Größte). Wenn sie Schweineschnitzel zubereitete, bebte die ganze Küche. Das Klopfen der Schnitzel schien für sie eine Art Sport oder Sadomaso-Ritual zu sein. Sie schlug auf die Stücke Fleisch mit einer Wucht ein, fluchend und fauchend, als würde sie ihren Mann umbringen wollen. Und sie fragte Bartek ständig, ob er Hunger habe und ob der Vater wieder betrunken von der Arbeit nach Hause gekommen sei und die Mutter beschimpft und geohrfeigt habe. Sie sprach mit ihrem Enkel ab und zu wie ein Mann, wie einer der bösen Kunden Herrn Lupickis: »Ihre Lippenstifte müsste man ihnen wegnehmen und im Tresor einschließen. Verprügeln müsste man sie – ihre geschminkten Mäuler, die den Männern den Kopf verdrehen! Pfui! Was für Satanskinder sind diese gottlosen Töchter von Oma Olcia!«
    Bartek musste nicht klopfen und klingeln, die Tür war meist angelehnt, Hilde lud die Nachbarn jederzeit zum Kartenspiel, Kaffee, Eierlikör und Wodka ein. Sie saß in der Küche, die eine Art Durchgangszimmer war. Es gab in diesem Raum keine Fenster. Sie hatten sich für acht Uhr morgens vor dem Milizrevier verabredet, was für Bartek bedeutete, dass er die ersten beiden Unterrichtsstunden schwänzen musste – Sport und Mathematik; beide Fächer waren ihm ein Dorn im Auge, der sozialistische Drill auf dem Fußballplatz, in der Turnhalle und an der Kreidetafel im Klassenraum. Die Schüler trainierten den Körper und den Verstand, aber selbst die Schnecken, die den verwahrlosten Wehrmachtsswimmingpool im Stadtwald bewohnten, waren klüger und schneller als die ungehorsamen Jungen aus dem Mechanischen Technikum, die wie

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