Der Lippenstift meiner Mutter
auf der Ferse zum Gehen und lief in Eile die Treppe hinunter.
Kapitel 8: »Ihr seid das Salz der Erde!« und »The Wall«
Kurz nachdem der schwarz gekleidete Bauwagenbewohner aus dem Lunatal – die dreckige Baskenmütze − verschwunden war, musste Bartek noch einmal auf die Toilette. Er verriegelte sogar die Tür, weil er Angst hatte, dass der Fremde plötzlich hereinkommen und ihm noch einmal die geheimnisvolle Frage stellen könnte. Barteks Magen rebellierte, und er erbrach sich sogar. Anschließend wusch er sich mit kaltem Wasser das Gesicht, um wieder zu sich zu kommen und munter zu werden. Das Schusterkind hatte schon oft davon erzählt, dass es ab und zu ungewöhnlichen, nein, beängstigenden Besuch bekäme, doch niemand in der Familie und Verwandtschaft nahm seine Berichte der seltsamen Visiten ernst, nicht einmal die Mutter Stasia, zumal Bartek sowieso als ein Schwätzer und Schwärmer galt. Die schwarzen wortkargen Wintermäntel mit den Baskenmützen lachten sich bestimmt eins ins Fäustchen, und Bartek entschied sich, die Stalinistin Natalia Kwiatkowska zu fragen, ob sie ähnliche Erfahrungen mit fremden Besuchern gemacht hätte wie er. Ja, er würde Frau Natalia um Hilfe bitten, mit Bestimmtheit wusste sie, was die merkwürdige Frage »Nofe?« zu bedeuten hatte.
Er sattelte seinen Rucksack, ein Geschenk aus Armeebeständen der Gelben Kaserne, in der Onkel Fähnrich arbeitete – übrigens nicht mehr lange, denn Berufssoldaten in seinem Rang wurden früh in Rente geschickt, und Funker gab es im Lunatal wie Sand am Fluss. Zum Glück war Frau Natalia da, sie ließ Bartek eintreten, sagte nichts, schaute ihn nicht einmal an. Auf ihrem Gesicht klebten Gurkenscheiben, eine Kur für ihre zarte weiße Haut, die an manchen Stellen so durchsichtig war, dass man die Äderchen, ein violett-blaues Netzgeflecht, bestens sehen konnte. Ihre Mutter Jadwiga saß in ihrem dunklen Zimmer auf dem Bett, ihr Oberkörper wippte hin und her, und ihre Augen tränten. Weinte sie? Draußen schneite es; die Sonne, die zwischenzeitlich für einige Minuten aufgetaucht war, versteckte sich hinter dicken düsteren Wolken. Im Lunatal hatte die Nacht wieder das Sagen.
Auf Barteks Frage, ob sie heute oder anderntags ungebetenen Besuch von einem Ausländer gehabt hätte, antwortete Frau Natalia mit »ja«. Endlich hatte das Schusterkind Erfolg: Es durfte allerdings das Wohnzimmer oder die Küche nicht betreten – die Stalinistin Natalia Kwiatkowska erklärte, dass sie mit Bartek nicht allzu lange sprechen könne und er bitte einen Abstand von mindestens einem Meter zu ihr halten möge, da sie eine ayurvedische Gesundheitskur durchführe, die absoluter Askese und Einsamkeit bedürfe.
»Man nennt sie die Blauen Vögel – das weißt du doch!«, sagte sie. »Sie finden nirgendwo Arbeit und ziehen durch das Land wie Gelegenheitsarbeiter. Aber da sie schon seit vielen Jahren unterwegs sind, haben sie vergessen, woher sie kommen und wohin sie gehen. Manche haben sogar das Sprechen verlernt. Und sie gehören zu verschiedenen Nationen. Es sind Juden und Polen aus Litauen und Galizien. Es sind Deutsche, die sich kaum noch daran erinnern, dass sie einst die Herren in unserem Lande gewesen sind. Und Zigeuner, jede Menge Zigeuner. Nächstes Mal gibst du ihnen ein Stück Brot oder etwas Kleingeld – dann kommen sie erst ein Jahr später wieder.«
»Und wenn diese Blauen Vögel keine Menschen sind?«, fragte er. »Stimmt das, was Herr Lupicki erzählt, dass manche Leute mit Engeln oder Toten in Kontakt treten können? Vielleicht bin ich auch so einer, der das kann!«
»Was für ein Quatsch!«, protestierte Natalia Kwiatkowska. »Ich muss dich enttäuschen: Wir sind die einzigen Bewohner unseres Universums. Herr Lupicki hat sich in seiner Schusterwerkstatt den Verstand weggesoffen. Seine Arbeit ist stumpfsinnig und erbärmlich, und das weiß er. Darum muss er sich eine Welt erfinden, in der er glücklich sein kann, und da er ein einfacher Mann ist, glaubt er an Götter, Engel, Teufel und Besucher aus dem Jenseits!«, sagte sie lachend und fuhr fort: »Nach dem Tod wirst du als Dünger in der Erde weiterleben. Eines fernen Tages wird sie aber verglühen und zerfallen, und dann wirst du im Weltall zusammen mit anderen Teilchen mutter- und herrenlos herumschweben wie Spinnweben des Altweibersommers, bis die Teilchen wieder von einem Himmelskörper eingefangen werden. Und wenn dieser Himmelskörper ein bisschen Glück hat, könnte es sein, dass er
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