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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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Oma Olcia von den Überschwemmungen des Vaters und von den Nachbarn des orangefarbenen Hauses, ihren Blicken und spöttischen Bemerkungen, die meist Barteks betrunkenen Vater oder die Affären der Mutter betrafen, erholen konnte. Die Jungen und Mädchen, die im orangefarbenen Haus wohnten, neckten das Schusterkind, es sei von Herrn Lupicki gezeugt worden, es sei Jude. Ja, manchmal war Bartek ein Jude, und ein anderes Mal musste er ein Deutscher sein, vor allem dann, wenn Oma Hilde Besuch aus West- oder Ostdeutschland bekam.
    Oma Olcia verfügte eigentlich über zwei Wohnungen – die eine befand sich in der Kopernikusstraße und die andere in der St.-Johann-Kirche, die sie, abgesehen von der Sonntagsmesse, fast jeden Abend aufsuchte, um gemeinsam mit ihren Freundinnen und dem Pfarrer zum Beispiel an den Adventsgebeten teilzunehmen. St.-Johann fungierte also mehr oder weniger als ihr zweites Wohnzimmer. Oma Hilde war gar nicht so eine fleißige Kirchengängerin wie ihre katholische Konkurrentin. Der evangelische Gottesdienst fand jeden zweiten Sonntag statt, und Bartek bekam nie eine eindeutige Antwort darauf, ob dieser in deutscher Sprache gehalten wurde. Es war ein Geheimnis, das ihm Hilde nicht verraten wollte. Sie sagte lediglich, viele alte Frauen, so auch sie, würden die frommen Lieder auf Deutsch singen; und bis jetzt seien nach jedem Gottesdienst Spitzel des sb auf sie zugekommen, um sie zu fragen, warum sie nicht auf Polnisch singen würden.
    Angekommen zu Hause, machte er sich an die Arbeit. Beim Packen kam ihm urplötzlich der Gedanke, dass er diesen festlichen Augenblick des Umzugs schon einmal erlebt hatte. Außerdem dachte er auch daran, tatsächlich zusammen mit Opa Franzose zu fliehen – an seinem letzten Tag in Dolina Ró ż würde er mit ihm alle Einzelheiten besprechen und ihn vor vollendete Tatsachen stellen. Vielleicht könnte er sogar den Franzosen dazu überreden, seine Tochter Joanna aus Gda ń sk abzuholen und nach Hause in Tschenstochau zu bringen, falls er dort in Tschenstochau überhaupt eine Wohnung oder ein Haus hatte. Bartek war so neugierig, wie das Mädchen in Wirklichkeit aussehen mochte, dass er schon am liebsten gleich am nächsten Morgen aus Dolina Ró ż fliehen und nach Gda ń sk fahren wollte, zu Joanna.
    Er war froh, dass ihn niemand beim Packen störte. Um Quecksilber kümmerte sich Oma Olcia, der Vater arbeitete noch, vielleicht hatte er sich inzwischen im Büro betrunken. Und die Mutter war mit ihrem roten Lippenstift beschäftigt und organisierte für die Schüler einen neuen Wettbewerb.
    Was brauche ich noch?, überlegte er. Meine Kassetten! »The Dark Side of the Moon« und »The Wall«! Beide Kassetten hatte ihm Marcin aufgenommen. Oma Olcia mochte seltsamerweise die Musik ihres Enkels; Bartek besaß die wichtigsten Radioaufnahmen, eine Musik, von der er sich kaum trennen konnte, genauso wenig wie von dem Album »Ummagumma«. Vor dem Einschlafen hörte er oft über Kopfhörer »The Dark Side of the Moon«, leider besaß er keinen Walkman mehr – das Gerät wurde ihm in der Schule gestohlen −, und so benutzte er den Ghettoblaster seines Vaters, der sich darüber meistens ärgerte. Krzysiek war wie ein Fuchs, der ständig eine Gefahr witterte. Benutzte man seine Sachen, machte er sich Sorgen, sie würden in fremden Händen kaputtgehen.
    Als Bartek auf der Toilette war, klingelte es an der Tür. Er pinkelte im Stehen, und durch das aufdringliche Klingeln schnitt er sich beim Hochziehen des Reißverschlusses in die Haut. Als er dann öffnete, erblickte er einen großgewachsenen und schlanken Mann in den Fünfzigern, der ganz in Schwarz gekleidet war und von dem er, Bartek, nachts geträumt hatte. Da sind sie wieder, dachte das Schusterkind erschrocken, die Obdachlosen, die Bettler! Der Fremde trug einen langen Wintermantel und auf dem Kopf eine Baskenmütze. Er hatte einen Dreitagebart, und seine Augen waren gläsern kalt. Sein Haar klebte zusammen, seine Kleidung roch nach Hundepisse. Der Fremde stellte Bartek eine Frage – die Frage, die das Schusterkind schon sehr gut kannte: »Nofe?« Der Bauwagenbewohner aus dem Lunatal streckte seinen rechten Arm aus, zeigte dabei mit dem Finger auf die Wohnzimmertür, als wollte er fragen, ob die Eltern zu Hause seien. Dieses Spielchen wiederholte sich dreimal. Bartek antwortete automatisch »nofe«, was immer dieses Wort heißen mochte, in welcher Sprache auch immer, und gleich nach seiner letzten Antwort drehte sich der Fremde

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