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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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Bartek nichts lernen wollten, weder im Fach der Metallurgie noch in Mathematik.
    »Du bist auch so ein Nichtsnutz wie dein Opa und dein Vater«, sagte Hilde. »Du wirst bestimmt zu unserem Friseur Tschossnek gehen und die Zeit bei diesem dummen Schachspiel totschlagen … Geh nur … Geh nur … Die Erde schämt sich deiner Füße …« Diesen letzten Satz wiederholte sie oft und stets mit großem Genuss − sie sah es gerne, wenn jemand unter ihren Worten litt, zumal ihr Mann mehr oder weniger gegen ihre Gifte immun geworden war.
    Ihre eigenen Füße steckten an diesem frühen Abend in einer Schüssel, die fast bis an den Rand mit warmem Wasser gefüllt war. Oma Hilde klagte wie gewöhnlich über rheumatische Schmerzen und furchtbare Träume, in denen sie Berge von Leichen gesehen hätte.
    Barteks Begeisterung für den deutschen Spion aus Amerika verflüchtigte sich nach dem kalten Empfang bei Oma Hilde schnell. Dann wäre ich doch lieber einem Juden aus dem finsteren Keller begegnet als meiner Großmutter, dieser nationalsozialistischen Kuh, dachte das Schusterkind, die einmal als BDM -Mädel nach Danzig gereist ist, um Hitler zu sehen.
    Bartek kehrte rasch auf die Straße zurück, wo er sich immer wohl fühlte, selbst dann, wenn es schneite. Hauptsache war, dass er nicht nach Hause gehen musste. Dafür ging er schnellen Schrittes durch das mittelalterliche Tor und kam auf den Markplatz. Von weitem schon sah er, dass der Frisiersalon von Herrn Tschossnek überfüllt war und aus allen Nähten platzte. Die Fensterscheiben waren beschlagen, und die Eingangstür stand nicht still: Neue Besucher kamen, um bereits nach wenigen Sekunden den Frisiersalon zu verlassen. An Barteks Winterstiefeln klebte der Schnee und erschwerte das Schreiten. Er kam sich vor, als würde er versuchen, den Gang seiner Mutter nachzuahmen – was er eigentlich nicht mochte. Er mochte es deshalb nicht, weil es ihm im Grunde Spaß machte, eine junge Frau zu mimen, die sich in ihren besten Jahren befand und noch viele Männer verführen konnte. Bartek entdeckte in sich ein Talent: Traf er jemanden, passte er sich ihm sofort an − seinem Intellekt, seiner Sprechart, seinen Sitten und Gepflogenheiten, auch wenn sie ihm ziemlich abstoßend vorkamen. Er wusste nicht, ob er diese Fähigkeit der absoluten Anpassung an eine Person als Schwäche oder Stärke definieren sollte. Wahrscheinlich war es eine Schwäche, und das machte ihm Sorgen.
    »Liebe Meryl«, sagte er zu seiner Geliebten, »ich weiß nicht, ob ich dich mitnehmen darf – zu dieser Schachpartie! Sie werden dich auslachen und dich darum bitten, auf dem Tisch zu tanzen und deine schlanken Beine zu entblößen! Oder sie schmeißen dich raus, weil Frauen ihrer Meinung nach bei einer Schachpartie kein Glück bringen …«
    Seine amerikanische Geliebte sagte: »Du bist doch nicht so dumm wie die bösen Männer aus dem Frisiersalon von Herrn Tschossnek, die er rasiert und denen er die Haare schneidet. Nimm mich unbedingt mit! Ich werde mich unter deinem Wintermantel verstecken, und in der linken Innentasche über der Brust, wo dein Herz schlägt, werde ich dem besseren Spieler die Daumen drücken!«
    »Also gut – gut, gut!«
    Bartek hasste es, wenn ihm Herr Tschossnek die Haare schnitt. Die geschnittenen Haare lagen auf dem Fußboden, und Herr Tschossnek und seine Auszubildenden traten auf ihnen wie auf Zigarettenstummeln auf dem Bürgersteig herum. Sie fegten die Haare zusammen und schmissen sie in die Mülltonne. Jeden Tag, von morgens bis abends, füllten sie die Mülltonne mit frischen Menschenhaaren. Sie fütterten mit ihnen den Hinterhof, wo die Mülltonnen der angrenzenden Häuser und Einkaufsläden standen, doch die geschnittenen Haare lebten weiter, sie wuchsen im Hinterhof weiter, und niemand wagte, sie zu verbrennen oder wenigstens zu vergraben. Und wenn Bartek nach dem Haareschneiden einen neugierigen Blick in den Hinterhof warf, glaubte er manchmal, die Haare seiner Mutter zu erkennen, diese langen schwarzen Schöpfe. Dann tat ihm das Herz weh, dass seine Mutter hier in den Schatten des Hinterhofs so ein jämmerliches Dasein führen musste – zwischen all den schwarzen Katzen- und Rattennestern.
    Barteks Ankunft im Frisiersalon, in dem eine angespannte Stille herrschte, blieb fast unbemerkt. Er musste sich mit seinem Rucksack durch eine gewaltige Menschenmenge hindurchquetschen, weil er bis zu dem Tisch, an dem Opa Franzose mit Herrn Tschossnek spielte, vordringen wollte. Die

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