Der Lippenstift meiner Mutter
Schwager und Herr Tschossnek verschränkten die Arme, als wollten sie sagen, nein, das, was der Franzose da behauptet hat, sei eine glatte Lüge, solch eine Mauer könne der Mensch nicht bauen, völlig unmöglich, um West-Berlin herum habe man lediglich Betonplatten aufgestellt, die man normalerweise für den Häuserbau verwende, und vor den Russen hätten die Deutschen schon immer Angst gehabt − kein Wunder also, dass sie loyale Befehlsempfänger seien und sich in ihrem eigenen Staat einbetonieren würden; der Fabrikdirektor Szutkowski und der Spitzel Staszek warfen dem Franzosen böse Blicke zu und verteidigten das sozialistische Bollwerk der DDR mit Flüchen und Beschimpfungen, die sich gegen den verdorbenen dekadenten Westen richteten.
Bartek nutzte die Gelegenheit, da das Staunen der Männer nicht aufhörte, um dem Franzosen von seinem kurzen Besuch bei der Stalinistin Natalia Kwiatkowska zu erzählen. Er übermittelte ihm auch ihre dringende Nachricht, die das Schicksal seiner unehelichen Tochter Joanna betraf. Als der Opa Franzose die Informationen seiner alten Geliebten vollständig erfasst und sich ihre Brisanz vergegenwärtigt hatte, begann er zu lächeln und sagte: »Guter Junge! Chapeau! Du bist mein Glücksbringer!«
Krzysiek wusste nichts von Barteks Umzug zu Oma Olcia; er kommentierte auch nicht, dass sein Sohn dem Franzosen in den nächsten Tagen Gesellschaft leisten sollte – nach einem ungeschriebenen Gesetz in Dolina Ró ż durften die eigenen Kinder nach Lust und Laune Freunden und Verwandten für ihre Reisen, Umzüge, Besuche oder Ausflüge als treue Begleitpersonen und Helfer angeboten und verliehen werden.
Krzysiek nahm seinen Sohn beiseite und bat ihn um Verzeihung – für den gestrigen Abend und für all die Nächte, in denen er »später als gewöhnlich« und »ein wenig berauscht« nach Hause gekommen sei. Diese spontanen Entschuldigungen, diese »ein wenig berauschten Nächte« kannte das Schusterkind zur Genüge. Sie wiederholten sich wie die Überflutungen, die die ganze Wohnung − vor allem am Wochenende, wenn der Vater untätig zu Hause herumhockte und nicht einmal an die Luna angeln ging − unter Wasser setzten.
»Ich weiß, Vater, was du mir sagen willst«, meinte Bartek. »Ich liebe dich doch auch!«
Sein Liebesbekenntnis war im Großen und Ganzen nicht gelogen, denn ab und zu wurde ihm bewusst, dass er diesen unberechenbaren Wassermann tatsächlich liebte – er liebte ihn und hasste ihn zugleich. In diesem Zustand befand sich Bartek permanent.
An diesem Abend wollte er in erster Linie den Vater so schnell wie möglich loswerden. Bartek war zum Schluss froh, als er zusammen mit Marcin, Anton und Romek unter einem Vordach im Hinterhof des Frisiersalons Zigaretten rauchte: Er hatte seine Freiheit wieder zurückbekommen. Der Vater war endlich gegangen, Schtschurek auch, und Mariola genoss die Aufmerksamkeit, die ihr im Frisiersalon zuteil wurde. Sie stand gerne im Mittelpunkt, ihr Lippenstift beherrschte perfekt die Kunst der Verführung: Sie trieb die Männer zu Anfang jeder neuen Liebesbeziehung oder Affäre in den Wahnsinn, aber sie gab sich ihnen dann nicht vollständig hin. Sie führte sie an der Nase herum, schlief mit ihnen zwischen Tür und Angel, und auch wenn die Männer attraktiv und erfolgreich waren, vor allem im beruflichen Leben, war Mariola ihnen nicht gnädig: Sie warf sie nach kurzer Zeit in den Fleischwolf, zerquetschte sie wie Ameisen und suchte sich neue Lustobjekte. Bartek hatte den Eindruck, dass sie ihren Lippenstift nicht aus Leid und Liebeskummer benutzte, wie es der Fall bei seiner Mutter war. Mariola wollte sich nur ein bisschen vergnügen − mehr nicht. Das Schusterkind glaubte ihr deswegen kein Wort, wenn sie behauptete, die Männer würden sie gnadenlos ausbeuten. Und sie hatte ihre Krankenschwesterinstinkte noch nicht entdeckt. Das war insofern schade, weil Bartek sich einst erhofft hatte, sie könne ihn in seiner schwierigen Liebeslage besser verstehen als seine Eltern und Opa Monte Cassino und Herr Lupicki, die ihn alle für einen Tagträumer und Spinner hielten. Dabei war das Schusterkind wirklich verliebt: Für Meryl Streep würde es in jeden Krieg ziehen und jede Schlacht gewinnen.
Marcin sagte: »Am Samstag treffen wir uns im Yachtclub von Antons Opa. Ich habe euch etwas Wichtiges mitzuteilen.«
Die Jungen rauchten ihre billigen filterlosen Zigaretten, die Sporty , sie ahmten Kettenraucher nach, zündeten sich ständig eine neue
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