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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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Zuschauer ließen ihn nur widerwillig durchmarschieren − er bediente sich tatkräftig seiner Ellenbogen.
    Um den Spielertisch herum standen seine Freunde: Marcin, Anton und Romek; Schtschurek hockte auf dem Fußboden und war ebenfalls mucksmäuschenstill − ausnahmsweise. Die drei blonden Schwager, Onkel Fähnrich, Onkel Versicherung und Barteks Vater und selbst der Mörder Baruch und die Hure Marzena waren auch da. In der zweiten Reihe entdeckte das Schusterkind den Fabrikdirektor Szutkowski und Schtschureks Vater, den Totengräber. Der Milizoffizier Staszek, der die evangelischen Gottesdienste bespitzelte, durfte natürlich auch nicht fehlen. Und der Bucklige Norbert saß auf einem Hocker und schaukelte im Sitzen hin und her. Da er seine Ministrantenglocken nicht rausholen durfte, hielt er in der rechten Hand ein Paar Stricknadeln seiner Stiefmutter. Herr Lupicki hatte immer die Befürchtung, sein behinderter Sohn würde sich eines Tages mit den Stricknadeln ein Auge ausstechen. Norbert hielt die Drähte so fest, dass man sie ihm nicht aus der Hand ziehen konnte, nicht einmal mit Gewalt. Und wenn Norbert geschlagen wurde, meistens von Kindern auf der Straße (»Zeig uns deinen sechsten Finger, zeig uns deinen sechsten Finger, du Trottel«, schrien sie ihn an) oder von seinem eigenen Vater, bewies er große Ausdauer und Sturheit. Sein Buckel, der sich für Faustschläge und Gürtelhiebe am besten eignete, musste aus Stein sein.
    Opa Monte Cassino und Micha ł Kronek, die Erzfeinde, hatte man zusammen auf eine Bank verbannt, die sie sich noch mit anderen teilen mussten. Auf Opa Monte Cassinos Rollstuhl hatte ein Überraschungsgast Platz genommen: die Tochter von Herrn Lupicki. Sie ließ sich einmal im Monat von Frau Tschossnek die Haare schneiden. Hatte sie heute wieder einen Termin? Das Schusterkind liebte es, Mariola beim Haareschneiden oder Strähnenfärben zuzuschauen. Es glaubte jedes Mal, in Mariolas Augen einen großen Schmerz über die Zerbrechlichkeit der Schönheit zu erkennen.
    Frau Tschossnek, die diese Schachpartie auch nicht verpassen durfte, denn schließlich ging es um ihre Zukunft, kochte für ausgewählte Gäste des Frisiersalons schwarzen Tee. Frau Tschossnek war zwar in die Jahre gekommen, aber sie hatte nach wie vor einen strammen Busen, den selbst junge Männer mit bewundernden Blicken begutachteten, und immer noch trug sie schwarze Miniröcke und Blusen mit einladendem Ausschnitt. Ihr Mann war ein hagerer knochiger Typ, der sich seine kurz geschnittenen Haare schwarz färbte. Er roch stark nach Rasiercreme und Haarwasser und erinnerte Bartek an einen Arzt aus dem Johanniter-Krankenhaus. Vielleicht lag es daran, dass Tschossnek einen weißen Kittel trug und seinen Kunden genaue Anweisungen gab, wie sie den Kopf halten mussten, damit er mit der Schere und dem Rasierapparat an schwierige Stellen herankommen konnte. Für Bartek war er ein Chirurg und das Haarwasser sein Desinfektionsmittel.
    Bartek gesellte sich zu dem Buckligen Norbert und setzte sich auf den kalten gefliesten Boden, direkt vor seine Füße. Alle warteten auf den nächsten Spielzug des Franzosen, der, wie sein Gegner, völlig abwesend wirkte. Herr Tschossnek war eigentlich kein leichtes Opfer – er hatte bloß Angst vor seinem Meister, der ihm im Übrigen in jungen Jahren das Schachspielen beigebracht hatte. Tschossneks Eltern waren im Warschauer Aufstand gefallen, und als junger Mann konnte er in den Warschauer Wehrmachtsruinen und auf den stalinistischen Baustellen keine Liebe und kein Zuhause finden. Die ostpreußischen Weiten lockten ihn, und hier in der Abgeschiedenheit der Wälder, Seen und Kleinstädte des Lunatals, das einst von deutschen Astronomen und Gräfinnen und Grafen besiedelt war, konnte er endlich aufatmen und ein neues Leben anfangen. Er ließ sich zum Friseur ausbilden, pachtete im selben Haus, in dem er wohnte, eine beachtliche Ladenfläche und eröffnete in den Fünfzigern den Frisiersalon Tschossnek . Auf dem Dachboden seines Domizils am Marktplatz entdeckte er eines Tages ein Grammophon und alte Schallplatten: Richard Wagner fiel ihm in die Hände, und seit dieser Entdeckung war er ein treuer Anhänger und Liebhaber der Nibelungenlieder und -abenteuer, wofür er von seinen Feinden oft Spott und Häme geerntet hatte, vor allen Dingen in der Zeit des Stalinismus, als ihm seine Leidenschaft für Richard Wagner und das Rheingold fast zum Verhängnis geworden wäre. Im Prinzip musste er sich von seinen

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