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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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Feinden immer noch anhören, er sei ein Nazi, was ihn besonders schmerzte, denn schließlich waren seine Eltern tapfere Landesarmeesoldaten des 1 . August 1944 gewesen. Für ihren Tod hatte er gebüßt und ein ganzes Jahr im Gefängnis verbracht. An heißen Sommertagen legte er in seinem Frisiersalon Wagners Schallplatten auf, sodass man die Musik auf der Straße hören konnte. Seine Frau war in die Chansons von Charles Aznavour verliebt, und wenn sie die Haare schnitt, vor allem bei jungen Frauen, hatte Richard Wagner schlechte Karten und musste dem Chansonnier weichen. Dann verwandelte sich der Frisiersalon in das Pariser Olympia .
    Herr Tschossnek hatte schon zwei Partien verloren und beschloss deshalb, das Spiel erst am nächsten Morgen fortzusetzen.
    »Ob ich dich morgen oder nächste Woche schlage, spielt für mich keine Rolle«, sagte der Franzose und lächelte. »Du bist jedoch ein guter Verlierer – du nimmst es mit Fassung!«
    »Ich bin nicht so grausam und wild wie du«, verteidigte sich der Friseur. »Ich weiß, wo mein Zuhause ist und mit wem ich zusammenlebe.«
    Das Publikum war enttäuscht – bis auf Bartek, der dem Schachspiel nichts abgewinnen konnte. Er fand nur einen einzigen Schachzug genial: das Gambit. Den einfachen Soldaten, den Bauern, für eine höhere Sache zu opfern, nämlich gleich zu Anfang und für den späteren Sieg, gefiel dem Schusterkind und seiner Vorstellung von Ehre und Metaphysik, denn wollte man wirklich gewinnen, ließen sich hohe Opfer nie vermeiden − und so war es auch bei seinem Opa Franzose gewesen, der für seine Freiheit den Preis der Einsamkeit bezahlen musste. Ansonsten konnte sich Bartek nicht vorstellen, stundenlang über den nächsten Zug zu grübeln, in der Beugung über das Schachbrett erstarrt. Die Lust, mit der sich die Bewohner von Dolina Ró ż den Gesellschaftsspielen hingaben, verriet ihm, wie kurzsichtig und töricht sie waren. Sobald sie Feierabend hatten und von ihren Fabriken, Büros und Schulen nach Hause gekommen waren, langweilten sie sich in ihrem Städtchen. Sie erfanden darum verschiedene Beschäftigungen, und die Zeit ließ sich am besten mit Spielen vertreiben. Außerdem waren sie nicht imstande, so schien es Bartek, den ewigen Winter, der im Lunatal herrschte, zu verstehen; sie begriffen nicht, warum er ihr Städtchen fest im Griff hatte und in seinen kalten Armen gefangen hielt.
    Monte Cassino wechselte seinen Sitzplatz, man half ihm zurück in seinen Rollstuhl, die Anwesenheit seines Erzfeindes Micha ł Kronek verunsicherte ihn, er mochte mit ihm die Bank nicht mehr teilen. Mariola kaute ihren bubblegum , blies immer wieder riesige rote Ballons auf – sie sammelte seit ihrer Kindheit die der Verpackung beigelegten Comics – und nahm Platz vor einem der Spiegel an der Wand: Tschossneks Frau sollte ihr die Spitzen schneiden und ihrer honigfarbenen Mähne hellblonde Strähnen verpassen. Und als die Schere in Frau Tschossneks Händen zu sprechen begann – schnipp!, schnipp!, schi!, schi! −, wollten einige Männer den Frisiersalon nicht mehr verlassen. In ihnen brannte plötzlich das Feuer der wahnsinnigen Hengste, die selbst ihre eigenen Mütter bespringen würden.
    Monte Cassino sagte, als er endlich bequem saß und sich mit seinem Gefährt im ganzen Raum frei bewegen konnte, zum Franzosen: »Du bist als Eisenbahner und Abtrünniger ganz schön rumgekommen, auch im Ausland. Stimmt es eigentlich, dass die Deutschen eine große Mauer gebaut haben – wie die Chinesen? Und kann man sie aus dem Flugzeug oder gar aus dem Weltall sehen, wie manche Leute behaupten?«
    Der Franzose schwieg und schaute seiner Geliebten dabei zu, wie sie Mariola die Haare wusch, die Spitzen schnitt, dann die Strähnen in Alufolie wickelte; wahrscheinlich stellte er sich vor, wie es wäre, wieder jung zu sein, an Mariolas Seite durch das Leben der Zwanzigjährigen zu gehen, wie es bloß wäre, noch einmal jung zu sein. Nach diesem verträumten Schweigen antwortete er seinem ehemaligen Feind: »Ich dachte, du bist ein Patriot und ein echter Pole geworden! Aber wie es scheint, sorgst du dich nach wie vor um deine alte Heimat. Ja. Ich habe die Mauer gesehen. Sie ist viel gewaltiger als die chinesische, und niemand wird sie zerstören, keine Bulldozer oder Panzer – so gewaltig ist sie!«
    Durch den Raum ging ein Raunen: Die alten Männer schüttelten staunend die Köpfe; Barteks Freunde und Schtschurek konnten ihr Staunen auch nicht verbergen; die drei blonden

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