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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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zu beenden. Konnte sie denn sprechen? Laufen? Lachen? Oder wollte sie lediglich ihren Zwillingsbruder bis zu dem mittelalterlichen Tor von Dolina Ró ż begleiten – dorthin, wo der Eingang ins Lunatal war −, damit er frei von Angst die Grenze zwischen den Träumen im Mutterleib und den Schreien der kalten irdischen Welt überqueren konnte?
    Als die beiden Jungen den Friedhof und die Beerdigung hinter sich gelassen hatten und an dem Yachtclub, ihrem Warteraum, vorbeikamen, musste sich Bartek von seinem Freund etwas schier Unglaubliches anhören. Anton sagte, er habe sich in die sommersprossige rothaarige hochnäsige und unnahbare Tochter des Fabrikdirektors Szutkowski verliebt.
    »Na dann! Viel Spaß wünsche ich dir mit diesem wilden Tier ! Und somit bleibt ihr auch unter euch, ihr Privilegierten!«, meinte Bartek und bereute sogleich sein hartes Urteil, seinen Zynismus; er entschuldigte sich.
    Szutkowskis Tochter, eine Gymnasiastin, war zwei Jahre älter als Anton, und Bartek hatte hier und da gehört, dass der Aristokrat des Denkens und Handelns ihr angeblich obsessiv nachliefe, doch vielleicht war das nur ein dummes Gerücht.
    »Ich bin nicht auf ihre Kohle aus!«, verteidigte sich Anton und wurde mit jedem folgenden Satz immer lauter. »Spinnst du? Außerdem gibt es mein Mädchen wirklich – sie ist kein Traum, keine Einbildung! Deine Meryl Streep kann ja nicht einmal mit einer Vogelscheuche konkurrieren! Sie existiert nur in deinem kranken Hirn!«
    »Aha! Und die Tochter von Szutkowski ist natürlich ganz verrückt nach dir? Wenn mich nicht alles täuscht, bemüht sich Marcin um ihre Gunst. Wie wirst du damit fertig?«
    »Das lass mal meine Sorge sein, Bartek«, schrie ihn Anton an. »Marcin ist wie dein Opa Franzose: Jede Frau, die diesem Weiberhelden gefällt, will er gleich ins Wenecja einladen, oder in den Stadtpark …«
    Bartek fühlte sich von der heftigen Reaktion seines Schulfreundes überrumpelt, ja, er ballte sogar die linke Faust, ganz automatisch, da er spürte, wie ihn der böse Schutzengel, diese Furie der Selbstgefälligkeit, wieder packte und ihm – fuchsteufelswild geworden − ins Ohr flüsterte: »Hau ihm, diesem Drecksack, auf die Fresse! Er belügt dich, er will dich hintergehen! Er glaubt dir kein Wort! Ein Freund muss dich als Erstes immer verraten – dann erst wird er zu deinem wahren Amigo!« Bartek ließ sich jedoch nicht provozieren und sagte durch zusammengebissene Zähne: »Meine Meryl wird mir bestimmt nicht im Wege stehen, wenn ich mich so wie du in die Tochter eines Fabrik- oder Schuldirektors verliebe! Und mein Opa Franzose ist sowieso verloren – ihn kannst du nicht mehr retten! Misch dich also in unsere Familienangelegenheiten nicht ein!«
    »Bartek, du liebst ein Gespenst! Kein Wunder, dass dich alle Mädchen meiden wie die Pest. Und weißt du, was sie über dich sagen?«, grinste Anton. »Sie sagen, dass dich Herr Lupicki gezeugt hätte, weil du genauso dämlich wärest wie der Bucklige Norbert! Herr Lupicki hätte mit seinen dreckigen Händen deine Mutter in der Totenkammer beschmutzt! Das sagen sie! Und sie haben Recht!«
    Eigentlich hatten die beiden Freunde geplant, am Abend ins Kino Zryw zu gehen, um sich den Film »Am Anfang war das Feuer« anzusehen, aber sie trennten sich im Streit vor Antons Haus in der Karol-Marks-Straße. Solche hämischen Hahnenkämpfe wiederholten sich bei ihnen regelmäßig − nur diesmal schien es Bartek, als hätte ihre Freundschaft einen tiefen Riss, einen schweren Rückschlag erlitten. Es war noch nie vorgekommen, dass sie sich wegen Barteks Liebe zu Meryl Streep oder Antons ständigen Verliebtseins gestritten hatten. Und es war auch noch nie vorgekommen, dass sie sich bereits auf der Hälfte des gemeinsamen Nachhauseweges getrennt hatten. Das Ziel war stets das Kino Zryw gewesen, der wichtigste Flughafen des Städtchens.
    Bartek fluchte über seinen Schulfreund und ging dann zu Oma Olcia. Seine Wut verflüchtigte sich nicht einmal am nächsten Tag, zumal ihn Anton in jeder Pause zwischen den einzelnen Unterrichtsstunden derb beschimpfte: »Schusterkind ist der falsche Spitzname! Kuckuckskind müsstest du eigentlich heißen! Auch deshalb, weil du einen Vogel hast!«
    Nach der Schule prügelten sie sich vor der Mauer, die die ehemalige Wehrmachtskaserne umgab. Der Schnee schenkte ihnen eine willkommene Abkühlung, da ihre Gesichter von den Schlägen brannten. Und als sie beide völlig entkräftet und schwer atmend und schnaufend

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