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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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Quecksilbers Blutbahnen floss und ihn krank machte. Es musste aber auch das Blut in den Herzkammern seines kleinen Bruders pochen, das im Johanniter-Krankenhaus produziert wurde. Quecksilber war einmal am Bauch operiert worden, und man hatte bei ihm eine Transfusion durchgeführt. Dieses gespendete Blut sollte Leben retten, und die Erzengel aus der Apotheke hatten die Aufgabe, die geretteten Leben zu beschützen. In Wahrheit aber wollten sie alle nur töten: Der Staat, weil er für seine Ideologie Sklaven brauchte; die Kirche, weil die Kirche die Bevölkerung ihrer irdischen und himmlischen Friedhöfe ernähren musste; das Johanniter-Krankenhaus und die Apotheke, weil sie immer wieder neue unheilbare Krankheiten erfinden mussten; und auch die Schule in der ehemaligen Wehrmachtskaserne und selbst der Flughafen »Kino Zryw« wollten töten, um die angeblich von Demiurgen und Terroristen bedrohte menschliche Zivilisation zu verteidigen. Das Kino Zryw tötete erstaunlicherweise am effektivsten, weil sich nach jedem Besuch im Lichttheater Wünsche und Begierden in den Bewohnern von Dolina Ró ż einnisteten. Darum ging Herr Lupicki nie ins Kino. Er sagte zur Erklärung: »Der Mensch braucht ein gutes Paar Schuhe, die nicht nass werden und mit denen man jeden Morgen zur Arbeit gehen kann. Warum soll er sich vergnügen und sein Herz mit Sehnsüchten, die nicht befriedigt werden können, vergiften?«
    Doch Bartek ging gerne ins Kino. Er hatte ja im Zryw Meryl Streep kennen gelernt. Und er besorgte sich in der Wirkwarenfabrik, die für ihre Arbeiter einen mit Sportartikeln hervorragend ausgestatteten Verleih besaß, einen Tennisball, den er fast täglich bei sich trug wie der Underdog-Boxer Rocky Balboa: Von ihm hatte sich das Schusterkind so einiges abgeguckt – das Liebesspiel mit dem Tennisball, der sein Handschmeichler wurde, die lässige Gangart und den melancholischen Blick. Und nachdem Bartek den Science-Fiction-Film »Unheimliche Begegnung der dritten Art« gesehen hatte, bereitete er sich auf die Landung der Außerirdischen in seinem Städtchen vor. Er schlüpfte in die Rolle des berühmten französischen Sprachwissenschaftlers Claude Lacombe und flog in die USA , um den Amerikanern bei der Vorbereitung des ersten Kontakts der Menschheit mit Außerirdischen zu helfen. Das geheime Treffen sollte auf dem Devil’s Tower in Wyoming stattfinden – den Devil’s Tower gab es ja auch in Dolina Ró ż . Der Teufelsberg im Stadtwald war zwar nichts weiter als eine billige Attrappe oder ein billiges Modell im Vergleich zu seinem amerikanischen Vorbild, aber das störte Bartek nicht. Im Sommer ging er immer wieder in den Stadtwald, meistens zusammen mit dem Buckligen Norbert, und er erklomm den Teufelsberg, um auf der Spitze die letzte Szene aus »Unheimliche Begegnung der dritten Art« nachzuspielen. Der Bucklige Norbert musste einen Außerirdischen mimen, und das Goethe-Denkmal war das gelandete Raumschiff.
    Im Frisiersalon von Herr Tschossnek hatte sich Bartek wieder unter die Zuschauer gemischt, obwohl ihn die Meditationen am Schachbrett zur Musik von Wagner mächtig langweilten und schläfrig machten: Opa Franzose gewann außerdem jede Schachpartie, und das Schusterkind konnte es kaum abwarten, endlich ins Kino zu gehen.
    »In deinem Alter habe ich im Kino gewohnt«, verabschiedete ihn der Franzose.
    Vor dem Kino Zryw begegneten Bartek und Anton ihrem Freund Marcin, sozusagen dem Chef ihrer Bande und ihres Yachtclubs poczekalnia . Überraschend war es nicht, dass er sich auch den Film ansehen wollte; er wohnte hier im Zentrum von Dolina Ró ż , nur einen Steinwurf vom Zryw entfernt, außerdem war er ein fanatischer Kinogänger.
    »Wisst ihr, dass der Film altersbegrenzt ist?«, fragte er und saugte an seiner Zigarette. »Ihr seid noch nicht sechzehn. Und ich habe ihn gestern schon gesehen. Manche Szenen sind wirklich brutal. Selbst ich musste in blutigsten Momenten kurz die Augen schließen …«
    Der Kartenabreißer hatte Bartek und andere noch nie vor die Tür geschickt, noch nie nach ihren Schülerausweisen gefragt – warum sollte es also diesmal mit dem Einlass nicht klappen? Bartek hatte einige Techniken entwickelt, um älter zu wirken. Er machte vor dem langjährigen Kartenabreißer Antek ein ernstes Gesicht, schaute ihm direkt in die Augen, hypnotisierte ihn. Nikotingeruch, mit der Wimperntusche der Mutter geschwärzte Schnurrbarthärchen, Schuhe mit hohen Absätzen − von Herrn Lupicki persönlich präpariert

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