Der Lippenstift meiner Mutter
seine Frau. Er fragte sie, wo sie sich denn gestern am späten Nachmittag herumgetrieben habe, und Quecksilber – Quecksilber sei, behauptete er, bis siebzehn Uhr im Schulhort gewesen, das sei unmöglich, unverantwortlich, dass sie den Kleinen so spät abgeholt habe. Die Mutter wehrte sich; aber nicht immer hatte sie eine gute Ausrede parat. Ihre Schulprojekte nahmen kein Ende, die Theatervorstellungen, die Rezitationsabende, die Konzerte, die Schulfeste und so weiter. Wo und wann traf sie ihre Liebhaber?
Barteks Eltern mussten ihren Streit beilegen, da die Uhrzeit drängte, die Schule und das Büro erwarteten sie. Beide wussten nicht einmal, dass ihr Sohn Oma Hilde zu einem Termin auf dem Milizrevier begleiten musste, und nachdem Bartek ihnen davon in wenigen Worten erzählt hatte, guckten sie ihn ein wenig verstört und ungläubig an. Und Stasia sagte: »Bartu ś ! Ich schreibe dir eine Entschuldigung für die Schule!«
»Aber du weißt, dass das wenig nützen wird«, flüsterte ihr Bartek ins Ohr, da er vor Krzysiek Angst hatte. »Die halten mich doch für einen Betrüger.«
»Nein, mein Liebster«, antwortete Stasia. »Du bist kein Betrüger.«
Bartek mochte es, wenn sie so mit ihm sprach − als wäre er ihr Liebhaber. Und er wusste auch, dass er eines Tages, womöglich schon in naher Zukunft, wenn er endlich ein Mann geworden war, seiner Mutter noch einmal begegnen würde – sie würde bloß anders heißen und etwa in seinem Alter sein. Er musste nur noch auf den Segen von seiner geliebten Meryl warten, den sie ihm mit Bestimmtheit irgendwann erteilen würde.
Der Vater schwieg. Er tat so, als hätte er dem Gespräch zwischen Stasia und Bartek nicht zugehört. Auf seinen Sohn konnte er nicht eifersüchtig sein – er hatte nicht einmal den leisesten Verdacht, dass seine Frau ihren älteren Sohn besser behandeln könnte als ihn. Und das gefiel dem Schusterkind, dass der Vater in seiner Wahrnehmung so blind und dumm und krummbeinig war. Krzysiek war eigentlich mit seiner Mutter Hilde verheiratet, die ihm als Einzige ins Gewissen reden konnte, was sie aber viel zu selten tat – sie hatte mit ihren eingebildeten Krankheiten und ihrem eigenen Mann ausreichend viel zu tun.
Sie verließen alle zusammen ihre Wohnung in dem orangefarbenen Haus. Krzysiek, der ständig Hunger hatte, nahm die Zigarette auch beim Sprechen nicht aus dem Mund. Er hatte den längsten Arbeitsweg, und Stasia kam mit Quecksilber bis zum Kino Zryw mit, dort mussten sie sich trennen.
»Du sollst dir nicht denken, dass ich ihn hasse«, sagte Barteks Mutter.
»Wen meinst du? Krzysiek etwa? Er ist ein Tierquäler, er ertränkt mich, er hat keine Geheimnisse, er ist ein Sargnagel, und jeder hat vor seinen Wutausbrüchen Angst, sodass er nie scharf zurechtgewiesen wird – von niemandem!«
»Er liebt dich … Er kann es nur nicht besser ausdrücken, dass er dich liebt …«
Vor dem Kino Zryw war es menschenleer. Anton war wohl längst zur Schule aufgebrochen, und Bartek beeilte sich, da Hilde ein ungeduldiger Mensch war. Musste sie verreisen, stand sie mindestens eine Stunde vor der Abfahrt des Zuges am Bahnsteig.
Bartek hatte keine Angst vor dem Verhör des deutschen Spions aus Amerika. Er dachte sich: Ich werde für ihn antworten, ich werde in seine Haut schlüpfen und er in meine; er und ich – das sind wir; er, der unbekannte Gast und Schnüffler, soll sich fühlen wie das Schusterkind, und ich werde ihnen alle Fragen in seinem Namen gewissenhaft beantworten, dachte er, und meinetwegen auch auf die Bibel schwören, auf die darin enthaltene und offenbarte Wahrheit, dachte er noch. Bartek konnte über seine Visite auf dem Milizrevier nur deswegen so ruhig und gelassen sinnieren, da er dort mehr oder weniger ein Dauergast war – Oma Hilde ging nur selten allein zum Dolmetschen für die Milizoffiziere, und wenn Bartek nicht zur Verfügung stand, nahm sie ihren Sohn mit, der den Milizionären ebenfalls bestens bekannt war. Krzysiek war Reservist der polnischen Volksarmee. Der Staat behielt ihn deshalb im Auge: Nach seinen beiden Besuchen in Westdeutschland, wo er auf einer Baustelle schwarz gearbeitet hatte, musste er jedes Mal zu mehreren Verhören auf dem Revier antreten.
Der deutsche Spion aus Amerika hieß Gunter Watzlaw, gab sich als Unternehmer aus und war wohl nicht älter als sechzig. Er war so erschrocken, dass er zu Beginn des Verhörs gleich in die Hose gepinkelt hatte. Er zog sich um, und als er wieder zurückgekommen war,
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