Der Lippenstift meiner Mutter
− und dieser freche selbstbewusste Blick: Das waren die Attribute, die man brauchte, wenn man Einlass ins Kino begehrte.
»Am Anfang war das Feuer« handelte von der Liebe zwischen Ika und Noah – einem Homo sapiens und einem Neandertaler. Das hübsche Mädchen beherrschte die Kunst des Feuerbohrens, und ihr Glück war, dass sich der Stamm von Noah auf die Feuersuche begeben hatte. Sonst hätte ihr ein grausamer Tod geblüht – am Lagerfeuer debiler Kannibalen. Sie wurde von den Neandertalern gerettet, obwohl diese Menschenrasse für sich selbst nichts mehr tun konnte. Ihr baldiges Aussterben war von höheren Mächten besiegelt worden.
Ika gefiel dem Schusterkind – sie war zwar für Meryl keine ernstzunehmende Konkurrenz, aber dafür hatte sie eine wunderschöne Körperbemalung, sonnengebräunte Haut der jungen Erde und urwüchsige Schminke im Gesicht, die Bartek sehr mochte. Ika wurde von Noah schwanger.
Sie hat uns Sterblichen Feuer und Liebe gebracht, diese Mutter der Menschheit, dachte er, als er nach dem Film durch das mittelalterlichen Tor eilte, da es schon spät geworden war.
Er hatte Angst. Plötzlich war die ihm altbekannte Angst wieder da − vor Schtschurek und vor den Außerirdischen vom Devil’s Tower und vor dem Boxer Rocky Balboa. Vor der Geliebten des französischen Leutnants und Colonel Walter E. Kurtz aus »Apocalypse Now«. All diese Filmfiguren hatte Bartek nach Dolina Ró ż eingeladen – sie lebten wirklich. Er hatte Angst vor dem Sprachwissenschaftler Claude Lacombe und dem Schnee, der die Straßen mit vom nächtlichen Himmel frisch gepressten Flocken bedeckte, Millimeter für Millimeter. Das Unsichtbare und Verschleierte machte ihm Angst. Die eigenen unvollkommenen und törichten Schöpfungen erschreckten ihn. Wer bin ich?, musste er sich schließlich fragen. Und was mache ich nur mit meinen lebensuntauglichen Kindern, die ich selbst gezeugt und geboren habe? Irgendjemand rief hinter seinem Rücken: »Ich schlage dich tot! Im Schnee wirst du brennen und krepieren!« Bartek drehte sich nicht um, er fing an zu laufen und schrie: »Schtschurek! Bist du das? Los, antworte mir! Gibt es dich wirklich?!«
Kapitel 11: »Autobiografia«
Noch in derselben Nacht, Bartek konnte nicht einschlafen, kam Meryl zu ihm ins Bett. Sie legte sich auf die Schlafsofakante und sagte: »Ich werde ganz leise sein! Wir dürfen deinen Opa Franzose nicht wecken!« Ihre Haut duftete nach Altweibersommer, ihr rotes Schamhaar war feucht und kalt. Am liebsten versteckte sie sich in Barteks Hemdtasche, in der Nähe seines Herzens, um den ganzen Tag bei ihm zu sein; sie war eine Verwandlungskünstlerin, und wenn es nötig war, schaffte sie es, sich so zu verkleinern, dass sie selbst auf einer Mohnkapsel oder gar auf der Nadelspitze ausreichend viel Platz zum Sitzen und Ausruhen für sich fand. Jetzt musste sie sich mit dem Rand eines Schlafsofas begnügen.
»Du sorgst dich unnötig«, beruhigte ihn seine Geliebte. »Du wirst eines Tages einer Frau begegnen, die aus Fleisch und Blut sein wird wie die Tochter von Herrn Lupicki! Ich werde dich dann für immer verlassen! Und diese Frau wird dich lieben und verehren!«
»Aber wie wird sie aussehen? Wie? Und wie lange muss ich noch warten?«
Bartek verbrachte schon viele Nächte mit schlaflosen Stunden, in denen er versuchte, sich das Gesicht seiner zukünftigen Frau vorzustellen. Wunderbare Segeltouren waren es, diese nächtlichen Träumereien von dem unbekannten Mädchen, das irgendwann zu ihm kommen würde, vielleicht schon bald. Und mochte er sich noch so sehr bemühen, dieses unbekannte Gesicht seiner Zukünftigen aus dem Nichts herbeizuzaubern, gelang es ihm nie, eine Wahl zu treffen. Würde seine Auserwählte rothaarig sein wie Meryl? Oder eher kastanienfarbenes Haar tragen? Er kniff die Augen zusammen, wälzte sich im Bett, stöhnte leise und beschimpfte seine rechte steife Hand, die auf dem Bettlaken schändliche Flecken machte, wegen derer die Heilige Maria in der St.-Johann-Kirche Tränen vergoss.
Bartek wurde von seinem Opa Franzose geweckt – beinah hätte er verschlafen, es war schon halb acht. Der Mond torkelte immer noch am verschneiten Himmel von Dolina Ró ż herum und wollte seinen Schützengraben nicht aufgeben, seinen hart umkämpften Platz für die Sonne räumen.
Es war Freitag, der wichtigste Tag der Woche, der in Dolina Ró ż der Leuchtturm aller Tage war. Das Wochenende begann, die Treffs mit Anton und Marcin in ihrem geheimen Warteraum
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