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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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unserem geheimen Projekt! Marcin wird mich umbringen!«
    »Unsere Klassenkameraden sind strohdumm«, antwortete Anton, »die merken doch nichts! Du musst dir keine Vorwürfe machen, außerdem wissen sie, dass du nicht alle Tassen im Schrank hast!«
    Sie konnten sich nicht weiter unterhalten: Der Friedhof füllte sich mit Menschen, ein Trauerzug kam ihnen entgegen, bog in eine der Alleen mit frischen Gräbern ab, blieb stehen, und vier Männer ließen den Sarg sanft in das Grab sinken. Die schwarzen Wintermäntel der Trauergäste und die Krähen, die sich in den Kronen der ehrwürdigen Eichen und Kastanien eine Art Urlaubsarchipel eingerichtet hatten, mussten miteinander befreundet oder verwandt sein. Jedenfalls waren die schwarzen Wintermäntel und die Vögel Verbündete des Todes, die kein einziges Begräbnis versäumten. Und die Taxifahrer und die Verkäuferinnen im Fleischerladen und selbst die älteren, ausgetrockneten, spindeldürren Damen in der Apotheke jammerten, dass das Sterben in Dolina Ró ż eine schlimme Seuche sei, ständig werde jemand beerdigt. »Wie die Fliegen krepieren die Leute«, sagten sie zu ihren Kunden, wenn sie einen freien Augenblick zum Plaudern fanden.
    Das ausgehobene Grab für den neuen Leichnam war das Werk des Vaters von Schtschurek: Zwei Spaten steckten in dem vom Schnee bedeckten Haufen Erde, und der Totengräber Biurkowski stand mit leicht gesenktem Kopf hinter dem jungen Pfarrer J ę drusik, um wieder einmal zu beweisen, dass er seines Amtes würdig war. Hätte der Pfarrer J ę drusik bei ihm Alkohol gerochen – und ein einziges Glas Wodka hätte ausgereicht, denn der junge Pfarrer hatte einen ausgeprägten Geruchssinn −, wäre Biurkowski noch am selben Tag seine Stelle los gewesen. »Wenn du schon saufen musst und dir nicht einmal der Allmächtige helfen kann, was bei den Bergen von Leichen auf deinem Friedhof selbst für mich − Seinen treuen Diener − nachvollziehbar ist, tue es bitte nach Feierabend«, hatte ihn der Pfarrer J ę drusik bei einem anderen Begräbnis gewarnt, bei dem auch das Schusterkind zufällig zugegen gewesen war. »Und trinke nie in einem Raum mit Devotionalien, damit du beim Sündigen Seine Augen nicht beleidigst!«
    Anton ließ sich von dem Trauerzug nicht beeindrucken. Nach kurzem Schweigen sagte er: »Wir hören uns am Samstag erst einmal an, was unser Chefideologe uns zu sagen hat. Dann sehen wir weiter. Und ich bin froh, dass er mich überhaupt eingeladen hat!«
    Bartek antwortete ihm nicht, denn er musste plötzlich an sein Schwesterchen Stasia denken, das tot auf die Welt kam, ja, bereits im Mutterleib tot gewesen war. Allzu oft passierte es nicht, dass er sich an den Tag erinnerte, an dem ihre Leiche in einem spielzeugpuppengroßen und mit silbernem Stoff bezogenen Sarg in der Friedhofskapelle aufgebahrt worden war. Er war damals erst fünf Jahre alt, und folgendes war geschehen: Bevor Stasia unter dem Sargdeckel für immer verschwinden sollte, entschlossen sich die Lebenden, der Kleinen »Auf Wiedersehen« zu sagen, einen letzten Blick auf sie zu werfen. Die Mutter hatte die ganze Zeit leise geweint und versucht, ihre Trauer und Tränen hinter einer Sonnenbrille zu verstecken − daran konnte sich das Schusterkind am intensivsten erinnern −, und Krzysiek und sein guter Freund und Arbeitskollege Marek, der im Übrigen nicht mehr lebte, hatten sich über das Aussehen des toten Babys lustig gemacht: »Eine Spielzeugpuppe! Unglaublich – die sieht aus wie eine Spielzeugpuppe!« Ihr albernes Kichern und Witzeln hätte eigentlich die Mutter ein wenig beruhigen sollen; die Männer bewirkten aber mit ihrem hysterischen Gekicher nur das Gegenteil, und an jenem Wintertag, an dem die Sonne für sein Schwesterchen zum letzten Mal geschienen hatte, schwor das Schusterkind dem gekreuzigten Christus in der Friedhofskapelle, in seinem nächsten Leben als Tante Hania oder Mutter Stasia oder sogar Oma Hilde auf die Erde zurückzukommen – niemals aber als ein Mann namens Krzysiek oder Marek.
    Oma Olcia erklärte, dass ein Verstorbener, unsichtbar für die Diesseitigen, noch ganze vierzig Tage auf der Erde – meist in der Nähe seines Wohnortes − herumlungern würde, um unerledigte Aufgaben abzuschließen, was natürlich gar nicht mehr möglich wäre. Und so hatte sich das Schusterkind oft gefragt, was mit der Seele seines Schwesterchens in diesen vierzig Tagen der Quarantäne geschehen sein mochte: Die Kleine hatte nichts begonnen und somit auch nichts

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