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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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bemühten sich die zwei zuständigen Milizoffiziere in Zivil, einen sanfteren Ton anzuschlagen, was ihnen bei jedem Satz misslang: »Für wen arbeiten sie? Los! Sagen Sie es uns endlich!«, attackierten sie ihre Beute. »Warum haben sie die Gelbe Kaserne fotografiert? Und warum nicht die Schwarze in der benachbarten Straße?«
    Oma Hilde sagte: »Nun lassen Sie den armen Wicht in Ruhe! Sie sehen doch, dass er ein armes Würstchen ist – er beteuert die ganze Zeit, er hätte nur ein paar Fotos fürs Familienalbum schießen wollen … Er kommt von hier, wurde in Dolina Ró ż geboren! Genossen! Habt Erbarmen! Und was soll bloß der Junge von uns Erwachsenen denken, he? Unser dümmliches Schusterkind! Hehe! Sie sollten ihm ein Vorbild sein! Sie repräsentieren unseren Staat! Oder haben Sie keine Söhne?«
    Das Verhör wurde nach Oma Hildes Intervention abgebrochen und auf nächste Woche vertagt. Die Beamten entschuldigten sich bei ihr, und nachdem Hilde zusammen mit ihrem Enkel das Gebäude der Miliz verlassen hatte, sagte sie: »Der Arme! Der kommt nicht mehr raus! Den werden Sie schon für ein paar Jährchen einbuchten!«
    Sie sprach dem Fremden ihr Mitleid aus, Bartek konnte jedoch Hildes Schadenfreude spüren, denn innerlich freute sie sich über die Dummheit und Naivität des Deutschen aus Amerika. Das war eben das Böse, das in ihnen, den meisten Bewohnern von Dolina Ró ż , straflos wütete. Und sie wussten sehr wohl, wie sie dachten und was sie taten. Nach außen hin verhielten sie sich wie Heilige, Märtyrer und Leidensgefährten, in ihren Kellern garte jedoch das Gift der Wut und Schadenfreude.
    In der Schule war der Unfall mit den brennenden Kühen immer noch das wichtigste Thema. In den Pausen war es laut wie in einem Bienenstock, jeder glaubte, die Wahrheit zu kennen, jeder präsentierte seine eigene Version des Unfalls.
    Bartek und Anton durften während des Unterrichts immer seltener zusammensitzen, die Lehrer hatten von ihrem Geflüster die Nase gestrichen voll. Deswegen schrieben sich die beiden Freunde kurze Nachrichten, die von Hand zu Hand an den jeweiligen Adressaten gereicht wurden. Sie nannten ihre Kurzbriefe Depeschen.
    Im Polnischunterricht, der letzten Stunde am Mittwoch, hatte die Lehrerin eine Depesche abgefangen und las sie laut vor. Auf einem Zettel stand geschrieben: »Anton! Ich habe Zweifel bekommen! Vielleicht sollten wir M. nun doch unterstützen? Die Institutionen müssen brennen! Es lebe ›Unde malum‹! PS : Wie wär’s denn heute Abend mit Kino?«
    Die Polnischlehrerin war − im Schuljargon gesprochen − eine klassische Sense: Gute Noten vergab sie nur selten, und sie wählte sich immer zwei oder drei Lieblinge aus, die sie protegierte. Sie war blond, groß, hatte kräftige lange Beine und trug jeden Tag Röcke, die ihr nur bis zu den Knien reichten. Die Strumpfhosen erzeugten, wenn sie ihre Beine übereinanderschlug, ein Geräusch, das im ganzen Klassenraum zu hören war, ein elektrisches Knistern − vorausgesetzt, dass die Schüler mucksmäuschenstill waren, was in diesem Fall für die Jungen kein Problem war: Sie gaben sich bei ihr so brav wie die Schäfchen, da sie das Reiben der in Strumpfhosen gehüllten Beine nicht verpassen wollten. Die Dame war schon ein bisschen in die Jahre gekommen, aber versuchte, ihre einstmalige Attraktivität mit Schminke wiederzubeleben. Die Schüler nannten sie »Frau Aquarell« oder »Frau Kolibri«, weil sie sich stark schminkte und eine dünne Stimme hatte.
    »Bartek, wenn du gerne so widerliche Briefchen schreibst, gebe ich dir eine besondere Hausaufgabe! Du wirst in die Stadtbibliothek gehen und recherchieren! Am Montag will ich einen Aufsatz von dir lesen. Dein Thema lautet: ›Heimatbilder in der Lyrik von Natalia Kwiatkowska‹!«
    Anton verschonte sie aus irgendeinem Grunde. Und dass Natalia Kwiatkowska, immerhin ihre Kollegin, einst Gedichte geschrieben und publiziert hatte, war am Mechanischen Technikum nicht unbekannt, ja, es hieß sogar, sie hätte einige berühmte Lobeshymnen auf Stalin verfasst, die damals im ganzen Land auf besonderen Festen zu Ehren des sowjetischen Diktators rezitiert worden wären.
    Nach beendetem Schulunterricht rauchten Bartek und Anton vor der Mauer der ehemaligen Wehrmachtskaserne wie gewöhnlich eine Zigarette. Als sie dann auf dem Nachhauseweg das Gelände des alten katholischen Friedhofs betraten, sagte Bartek: »Immer muss ich alles vermasseln! Warum ist das so? Jetzt weiß die ganze Klasse von

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