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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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nebeneinander im Schnee lagen, sagte Anton: »Mir reicht’s! Ich kann nicht mehr! Würdest du mich immer noch mit in den Krieg nehmen? Wenn ich dein Soldat wäre?« − »Mit Vergnügen! Mein Lieber!« Sie gaben sich die Hand und unterschrieben einen neuen Nichtangriffspakt, den Romek eine halbe Stunde später in seinem Eremitenreich auf dem Dachboden als ihr Zeuge und zukünftiger Rechtsanwalt mit einer Unterschrift und einem Kerzenwachssiegel beglaubigte; für den Abend verabredeten sich Bartek und Anton fürs Kino.
    Opa Franzose verbrachte die meiste Zeit im Frisiersalon des Herrn Tschossnek. Entweder spielte er Schach, oder er ging mit Tschossneks Frau ein Stockwerk höher, wo sich die Wohnung des Friseurehepaars befand. Das Quietschen der Matratze und die Stimme von Charles Aznavour hörte man im ganzen Treppenhaus. »Der arme Tschossnek!«, klagten alte Weiber, die an seinem Laden vorbeigingen.
    Bartek war bester Laune, in seinem Schusterkindherzen herrschte Frieden – er hatte sich mit Anton versöhnt, und am Abend würde er mit ihm zusammen wieder einmal ins Kino gehen. Und wenn man im Kinosaal saß, die Vorhänge nach den Seiten gezogen wurden und der Film endlich startete, war das so, als hätte man mit einer Schere im Himmel von Dolina Ró ż ein Loch ausgeschnitten: ein Guckloch. Und durch dieses Guckloch gab es auf der anderen Seite unbekannte Welten zu sehen − Städte, Menschen, Flugapparate, Wälder und Flüsse, Ungeheuer und Mörder, Propheten und Götter, die man im Lunatal nicht kannte, noch nie gesehen hatte.
    Betrübt war Bartek nur aus einem Grunde: Quecksilber hatte sich in der Schule wieder einen grippalen Infekt geholt und lag mit hohem Fieber zu Hause im Bett. Am späten Nachmittag, als Bartek von der Schusterwerkstatt, in der er seine Hausaufgaben gemacht hatte, in Richtung des Frisiersalons von Herrn Tschossnek aufbrach, um Opa Franzose die Daumen zu drücken und die nächste Schachpartie zu sehen, erspähte er hinterm Schaufenster der Apotheke seine Mutter, die am Tresen stand und ein Rezept einlöste. In ihrem Gesicht stand wieder dieser quälende traurige Anblick der Machtlosigkeit, das blanke Entsetzen des Ausgeliefertseins – und diesen Anblick hasste Bartek abgrundtief. In der Apotheke hausten und arbeiteten mordlustige Erzengel, denen während ihrer pharmazeutischen und von der Regierung abgesegneten Ausbildung die Flügel abgeschnitten worden waren. Sie rochen ähnlich wie die Ärzte aus dem Johanniter-Krankenhaus, und diese Erzengel entschieden genauso schnell und kaltblütig über Leben und Tod der Patienten wie ihre Kollegen, die im violetten Licht die chirurgischen Operationen durchführten. Der Unterschied war bloß, dass der Tod in der Apotheke ein gutes Versteck gefunden hatte. Die mordlustigen Erzengel hatten weiße Haut, lackierte Fingernägel und Zähne aus Gold im Mund. Sie stopften die Patienten mit Medikamenten voll, bis sie so vergiftetet waren, dass keiner sie mehr heilen konnte. Tante Agata war tablettenabhängig, wie auch Quecksilber, an dem die Ärzte, vor allem der Kinderarzt Żukowski, verschiedene medizinische Experimente durchführten – angeblich für das Wohl der Menschheit. Und manchmal, wenn die Erzengel aus der Apotheke von Dolina Ró ż versagten, weil sie ein bestimmtes Heilmittel weder selbst herstellen noch irgendwo besorgen konnten, musste man die Medikamente im Ausland kaufen. Barteks Eltern gaben für diese kostspieligen Arzneimittel und Bestellungen viel Geld aus – in D -Mark oder Dollar zahlte man die teuren Pillen, Tropfen, Impfstoffe in Ampullen und Säfte, die Oma Hilde von ihren Freundinnen aus Westdeutschland nach Rosenthal schicken ließ. Das Erstaunliche aber war, dass diese Medikamente, die angeblich besser sein sollten als alle einheimischen Heilmittel, Quecksilber auch nicht halfen, obwohl sie für die furchtbarsten und tödlichsten Krankheiten entwickelt worden waren. Diese Gegengifte und Wundermittel aus den westlichen Laboratorien kamen normalerweise in Afrika zum Einsatz – gegen Cholera und Malaria, doch bei Quecksilber hatten sie Pech. Die mordlustigen Erzengel aus der Apotheke freuten sich dann über solche Misserfolge. Und Krzysiek weinte und klagte: »In Afrika − da sollen sie doch krepieren wie die Fliegen! Wie die Fliegen! Aber mein Quecksilber! Mein kleiner Sohn! Er darf nicht sterben!«
    Bartek vermutete, dass das Gift der Wut, die sein Vater, dieser Wassermann, Tag für Tag mit sich herumschleppte, auch in

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