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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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des Yachtclubs begannen, die groovigen Feste, wenn sie den Radiorecorder laut aufdrehten, Bier tranken, Zigaretten rauchten, die Lehrer beschimpften, den Kommunismus in einem Atompilz explodieren ließen und sich überlegten, wie man die Tochter von Herrn Lupicki in eine Falle locken könnte, um ihr zu zeigen, dass sie auch begehrenswerte Männer waren und auch geliebt werden wollten.
    Sport war die erste Unterrichtsstunde im Mechanischen Technikum an jedem Leuchtturmfreitag. Danach war noch mehr Langeweile angesagt: nämlich bei Professor Kozio ł , der das Fach Metallurgie unterrichtete; in seinem Kurs ging es um die Galvanotechnik, um die chemische Zusammensetzung der Eisenerze und um den Aufbau der großen Hochöfen in den Eisenhütten. Professor Kozio ł war ein Meister der Monologe, die er stets im Ton eines erleuchteten Yogis hielt. Man schlief bei ihm ein, man musste sich zwingen, wach zu bleiben, Notizen zu machen, wenn Kozio ł seine langen, von kurzen Atempausen unterbrochenen Monologe zum Besten gab. Sein Unterricht glich der Heiligen Messe in der St.-Johann-Kirche – es war wohlgemerkt eine Metallurgische Messe, ein Triumph der Technik und des menschlichen Verstandes, ein glatter Sieg der Ratio, und Kozio ł s Gott hieß Luigi Galvani und seine Religion der Galvanismus (eine Art moderne Alchemie). Gemeiner und unredlicher, was das Quälen der Schüler anging, war es nur noch bei Professor Baran, dem Lehrer für Technisches Zeichnen. Seine Vorträge waren noch monotoner als die des metallenen Kollegen. Aber das Besondere war, dass Professor Baran den Schülern nie direkt in die Augen oder ins Gesicht guckte. Sein Blick haftete während seines Vortrags an der Klassenraumdecke, und wenn man ihm eine Zeichnung zur Prüfung vorlegte, starrte er sie kritisch und Nase rümpfend an, redete eine Weile mit sich selbst und erteilte dem Schüler anschließend Schelte oder Lob – den Autor der Zeichnung schaute er dabei jedoch nie an. Er war für ihn wie Luft.
    Die höchsten Platzierungen der Hitliste von Radio 3 , die jeden Samstag gesendet wurde, belagerte seit Jahren Perfect , Barteks und Antons Lieblingsband, zumindest seit ihrem Song »Autobiografia«, der schnell zu einer ketzerischen Version der polnischen Nationalhymne wurde. Und auch darauf freute sich das Schusterkind, auf diesen Kampf der Platzierungen auf der Hitliste: Es würde morgen Abend mit seinen Freunden im Warteraum des Yachtclubs am Radio sitzen und als weltbekannter Musikkritiker die Songs mit dem nach oben oder nach unten gerichteten Daumen beurteilen. Der einzige Tag, der Bartek ein wenig Sorgen bereitete, war der Sonntag. Oma Olcia würde ihn um zehn Uhr morgens mit in die Kirche zur Heiligen Messe zerren, wahrscheinlich zusammen mit dem Franzosen, und das folgende Mittagessen bei ihr zu Hause könnte sich zu einer Gerichtsverhandlung entwickeln, zumindest was die unerwartete Rückkehr des Franzosen betraf. Seine jüngeren Töchter, die erbarmungslosen Staatsanwältinnen in Olcias Familie, bereiteten bestimmt schon ihre Waffen, ihre scharfen Zungen, vor. Barteks Onkel würden sich köstlich amüsieren, und der Wassermann Krzysiek, dem jede Schandtat zuzutrauen war, würde wieder einmal den beleidigten und leidenden Edelmann spielen. Davor, vor diesem Sonntagmittagessen, graute es dem Schusterkind.
    Bartek putzte sich in Eile die Zähne. Er war der einzige Schüler des Mechanischen Technikums, der auch am Leuchtturmfreitag ein weißes Hemd, eine Krawatte und ein Sakko anzog. Seine Mutter wusch und bügelte ihm die Hemden, die Stoffhosen und selbst die Unterhosen und Socken. Als Bartek in die erste Klasse der Grundschule gekommen war, hatte sie ihm von der Schneiderin Sadowska zwei blaue Anzüge anfertigen lassen. Die Mutter achtete darauf, dass ihre Kinder immer saubere Kleidung trugen, und sie schickte Bartek und Quecksilber einmal im Monat zum Friseur, zu Herrn Tschossnek, und einmal im Jahr zur Schneiderin Sadowska, um neue Anzüge für die Schule zu bestellen. Dreckige Hände und Fingernägel, an den Knien durchgescheuerte Jeanshosen und fettige Haare oder nicht geputzte Schuhe waren Stasia ein Graus, ein Dorn im Auge. Aber die größte Beglückung empfand die Mutter erst dann, wenn ihre Kinder, vor allem Bartek, im blauen Anzug und im weißen Hemd mit einer Fliege oder einer samtenen Schleife unterm Kinn von ihren ehemaligen Schülern, die kurz vor dem Abitur standen oder bereits studierten, bewundert, fotografiert und in die Stadt für

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