Der Lippenstift meiner Mutter
einen Spaziergang ausgeführt wurden wie prominente Gäste. Das Schusterkind fühlte sich bei diesen Spaziergängen, die meistens mit süßen Gaumenfreuden im Café Wenecja endeten, wie eine Schaufensterpuppe. Und das weiße Hemd, das Bartek eben nicht nur an den Schulappellmontagen trug, war die Nationalfahne seiner Mutter: In ihrem Staat sollte ein Kind sauber, brav, gebildet, höflich und hübsch sein. Insgeheim hatte sich die Mutter wahrscheinlich gewünscht, Bartek wäre kein Junge, sondern ein Mädchen geworden, weil man ein Mädchen wie eine Puppe ankleiden und im Städtchen auf den Laufsteg schicken konnte − auf die Straßen, auf denen jeden Tag eine Modenschau präsentiert wurde. Die jungen Frauen wetteiferten miteinander um die Blicke der Männer, und jedes Mädchen dachte: »Mein Kleid ist das schönste und meine Frisur ebenso! Spürt ihr schon meinen Lippenstift brennen?«
Oma Olcia war auch schon auf den Beinen, da sie auf dem Wochenmarkt einkaufen musste. An Freitagen, selbst wenn es regnete oder schneite, schleppte sie in beiden Händen vollgepackte Einkaufstaschen und legte lange Strecken zu Fuß zurück. Der Wochenmarkt fand auf einem Brachfeld statt, das man in Dolina Ró ż auch als Grenzland zu bezeichnen pflegte, denn es lag am Rande des Städtchens, wo man die neuen Plattenbauquartiere gebaut hatte. Dort auf dem Brachfeld boten Kleinbauern Karotten, Kartoffeln, Eier und Lebendtiere wie Hühner, Gänse, Enten und sogar Schweine feil. Die Tiere wussten, was ihnen blühte, wozu Oma Olcia und andere alte Weiber fähig waren. Ihre Todesangst, ihr nervöses Augenzucken, das verzweifelte Halsrenken und Zittern ihrer Gliedmaßen verrieten dem Schusterkind, wie blind und kaltblütig die Kleinbauern und ihre Kunden waren. Sie hatten ein nüchternes Geschäft abzuwickeln; Mitleid mit ihrer Ware zu haben, war nicht angesagt. Ihre gierigen Menschenmäuler und -bäuche, die möglichst gut genährt und gestärkt durch den ewigen Winter des Lunatals gebracht werden wollten, fürchteten den Hunger mehr als die Predigten in der St.-Johann-Kirche oder das Jüngste Gericht.
Bartek fragte sich, warum Katholiken Fleisch essen und ihre Zuchttiere schlachten durften, warum das kein Verstoß gegen das fünfte Gebot war. Am Freitag flüchteten sie sich in die Frömmigkeit und fasteten, verspeisten Sprotten aus dem Baltischen Meer oder Mehl- oder Kartoffelklöße. Fische, die Barteks Vater und Onkel in der Luna oder in den masurischen Seen gelegentlich angelten, waren ein exquisiter Leckerbissen, der zum Wodka gegessen wurde. Hecht in Aspik liebte Stasia, es war das einzige Gericht, das ihr Mann für sie persönlich zubereitete. Ab und zu nahm Krzysiek seinen Sohn auf eine Angeltour an der Luna mit, dann fing Bartek für seine Mutter einen Hecht.
Olcia schmierte Bartek ein Brot für die Schule und schimpfte über ihren Franzosen, dem es an diesem Morgen schwer fiel, das warme Bett zu verlassen. Olcias Vorwürfe waren für das Schusterkind nichts Neues, es kannte die Gifte und Arzneien ihrer Hausapotheke sehr gut. Sie sagte: »Die Frau von Tschossnek ist sein Sargnagel, diese Hexe! Sie wird auch früher oder später ihren Mann unter die Erde bringen! Und der Franzose denkt immer noch, er wäre ein junger Bursche von dreißig Jahren!«
Das Schusterkind gab seiner Oma Olcia einen Abschiedskuss auf die Wange und sagte: »Lass ihn heute nicht aus dem Haus gehen – schließ ihn in der Wohnung ein, und ich komme nach der Schule zum Mittagessen: Dann sehen wir weiter!«
Er lief nach draußen, Anton konnte er vor dem Kino Zryw nicht mehr abholen, dafür war es zu spät, und sein Freund war bestimmt schon längst zur Schule losgegangen. Der Himmel hatte sich von dem mächtigen Einfluss der Nacht und des Mondes noch nicht lösen können, das Sonnenlicht schwächelte, der Morgen war neblig, und graue Schwaden schwebten überall dort, wo sich die warme Luft mit der kalten vermischte.
Im Marschschritt hatte Bartek den Schulweg zurückgelegt, verschwitzt und abgekämpft kam er zum Sport, zur ersten Unterrichtsstunde. Er musste sich noch umziehen, was ihn jedes Mal viel Zeit kostete, sodass er wieder einmal zum morgendlichen Begrüßungsappell in der Turnhalle nicht pünktlich käme.
In der Turnhalle des Mechanischen Technikums war die Luft nicht nur im Sommer stickig und muffig – auch im Winter roch es dort nach alten Wischlappen und Schimmelpilzen. Schweißdünste und abgetragene Turnschuhe und Unterhemden wohnten in den
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