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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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Umkleideräumen, in denen sich schon viele kleine und große Tragödien abgespielt hatten. Draufgänger, Kampfhähne und Schlagetote verspotteten und drangsalierten die Schwächeren, lachten über ihre Schmalbrüstigkeit, bespritzen ihre nackten Körper mit kaltem Wasser und brüllten vor Lachen, wenn ihre Opfer die Zähne zusammenbissen oder heulten. Bartek und Anton hatten bis jetzt Glück gehabt – die Schlagetote ließen sie beide in Ruhe und zwangen sie nicht dazu, ihre Hosen runterzulassen: Jeder Penis war ihnen zu klein und des Spottes wert.
    Nach dem Sportunterricht gab es nicht einmal Zeit zum Duschen. Verschwitzt rannten Bartek und seine Mitschüler über den Fußballplatz zu einem der zweistöckigen Hauptgebäude, in deren Klassenräumen einst Soldaten des Zweiten Weltkrieges wie zum Beispiel Opa Monte Cassino geschlafen und Gott um Verschonung im Bomben- und Granatenhagel an der Front angefleht hatten. Mickiewicz’ oder Baczy ń skis Gedichte, vor welchen die sozialistischen Schulbücher nach 1945 überquollen, dürften den Wehrmachtssoldaten unbekannt gewesen sein. Nun aber mussten sich die Seelen der gefallenen Deutschen in ihrer ehemaligen Kaserne mit polnischer Dichtung befassen − Bartek war sich sicher, dass das für diese Untoten eine grausige Strafe war.
    Die Polnischlehrerin erinnerte Bartek an seinen Aufsatz, den er über die Gedichte von Natalia Kwiatkowska schreiben sollte. Die ganze Klasse lachte herzlich über ihn, aber er streckte ihnen, den Spöttern, seine Zunge raus und sagte: »Ich werde mit Frau Kwiatkowska persönlich ein Interview führen! Sie ist meine Nachbarin, außerdem ist sie eine großartige Physikerin, die in einem botanischen Garten wohnt – doch von solchen Dingen versteht ihr nichts, ihr Primaten! Ihr Hundesöhne!«
    Für seine Beschimpfungen wurde Bartek kurz vor der Pausenklingel vor die Tür geschickt. Er versteckte sich auf der Toilette, obwohl es in wenigen Minuten zur Pause läuten würde. Wenn der Schuldirektor einem Aussätzigen und Rebellen vor der Klassenraumtür zufällig begegnete, konnte es passieren, dass man auch noch von ihm, dem strengsten Lehrer, Professor und Hohepriester der Schule, eine Strafe erhielt.
    Bartek und Anton waren heilfroh, als der Unterricht zu Ende und überstanden war, dieses buntscheckige terroristische Bildungsprogramm: Sport bei einem pensionierten Offizier der Volksarmee, im Übrigen einem Giftzwerg; Polnisch bei einer gealterten Blondine, die ihre Partner so oft wechselte, wie es nur ging, und die jungen Männern gegenüber feindlich eingestellt war; Technisches Zeichnen und Metallurgie, gelehrt von zwei erdabgewandten und weltfremden Philosophen – das waren alles in allem harte Prüfungen, fand das Schusterkind.
    Vor den Toren der Schule wartete der Bucklige Norbert. Er war durchgefroren, seine Nase lief und blinzelte rosafarben, er musste schon mindestens seit einer Stunde auf Bartek und Anton gelauert haben. Aus seinem Wintermantel zog er freudestrahlend ein Weckglas mit dem Schuhleim budapren hervor, als das Schusterkind auf ihn zukam, um ihn zu fragen, warum er diesen weiten Weg auf sich genommen hatte, ob er wieder eine Nachricht mit wichtigen Neuigkeiten zu übermitteln hätte.
    Norbert lachte, und wenn er lachte, schnellte seine Oberlippe nach oben und berührte fast die Spitze seiner langen Nase − man konnte dann Norberts riesigen pferdeartigen Vorderzähne und sein üppiges Zahnfleisch bewundern: Der Sohn von Herrn Lupicki kratzte sich auch noch am Hals und bewegte den Kopf hin und her. Immer wenn Bartek besonders gut gelaunt war und dem Buckligen ein Kompliment machen und seinen Dank aussprechen wollte, sagte er zu ihm: »Stevie Wonder! Gute Arbeit! Stevie! Danke dir!«
    Bartek nahm dem Buckligen das Weckglas mit budapren ab und reichte es sogleich weiter an Anton: »Siehst du! Auf Stevie Wonder ist Verlass!«, sagte er. »Morgen werden wir das Zeug in unserem Warteraum testen – und ich werde schon vom bloßen Anschauen dieser karamellfarbenen Flüssigkeit high!«
    Am Broadway
    Die K ę trzy ń ska war die längste und geschäftigste Straße des Städtchens. Bartek und auch Marcin und Anton nannten sie Broadway , was in ihren Augen gar nicht übertrieben war. Ein paar Filme, die in New York spielten (»Die Klapperschlange«, »Saturday Night Fever« und »Die drei Tage des Condor«), hatten sie zu dieser Umbenennung inspiriert, und diese wichtigste Hauptverkehrsader und Einkaufsmeile von Dolina Ró ż verband

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