Der Lippenstift meiner Mutter
die Altstadt mit dem gefürchtetsten Bezirk ihres Wohnortes: nämlich mit dem katholischen Friedhof, in dessen Gräbern die Toten bis zu ihrer theologischen Schuld- oder Freisprechung am Tag des Jüngsten Gerichts ein Gefangenendasein fristen mussten – ohne Licht und Dunkelheit im Niemandsland.
Die K ę trzy ń ska führte bis an die äußersten Stadtgrenzen und mündete in eine Bundesstraße. Dort, an dieser Mündung, stand eine namenlose und geheimnisumwobene Fabrik, und in dieser Fabrik verbrachten die Arbeiter ihr ganzes Leben, als wären sie zum Tode verurteilte Häftlinge. Es war ein streng gehütetes Staatsgeheimnis, welche Produkte die Arbeiter in ihrem Betrieb herstellten. Bartek vermutete, dass die Arbeiter selbst nicht wussten, was genau hier produziert wurde: Maschinen, komplizierte Gerätschaften, Waffen oder unbrauchbare Türschlösser? Die Menschen mussten nur gehorchen, schweigen und schuften – die Pläne der Partei erfüllen. Ab und zu traten die Arbeiter in den Streik, obwohl ihnen klar war, dass sie gegen den Tod und die Partei nie gewinnen würden. Ihre übertriebenen Forderungen nahm niemand ernst, zumal ihre Streikführer unbedeutende Witzfiguren waren, die sich Papiermützen aus alten Zeitungen falteten, um den großen Generälen ihrer Nation nachzueifern.
Am Broadway gab es eine Geistertankstelle, die wegen der häufigen Lieferengpässe selten geöffnet war, und die öffentliche Regionalbusgesellschaft pks hatte hier am Broadway auch ihren Firmensitz. Bartek konnte leider nur wenige Male mit einem Bus zu einem anderen Ort reisen, zu einem anderen Planeten und Stern des Lunatals. Er musste auf den Sommer und auf die Schulferien warten, dann fuhr er mit den Eltern an einen See. Doch der Winter war so übermächtig und teuflisch, dass Jahr für Jahr niemand genau zu sagen wusste, ob der Sommer wirklich je wieder zurückkommen würde, was den Kalender und seine heilige astronomische Ordnung in Frage stellte, und die sehnsuchtsvolle Erinnerung an die heißen Juli- und Augusttage glich mehr einem Traum von einer untergegangenen Welt. Diese winterliche Gedächtnistrübung war die schlimmste Krankheit in Barteks Geburtsstädtchen, und man konnte schon ruhig von einer uralten und gefährlichen Pandemie sprechen, die in Rosenthal ebenso erfolgreich gewütet hatte.
An dieser Straße stand auch das Gebäude der Stadtbibliothek, die das Schusterkind nach dem Mittagessen bei Oma Olcia aufsuchen würde. Und das einzige Kaufhaus von Rosenthal, das seltsamerweise genauso hieß wie Barteks Mutter, ein Hotel, Boutiquen, Eisdielen und Bäckereien, ein Buch- und Blumenladen und sogar ein Spielzeuggeschäft hatten am Broadway ebenfalls einen würdevollen Platz gefunden.
Bartek musste sich auf dem Nachhauseweg vorzeitig von dem Buckligen Norbert und Anton trennen, was seinem Freund nicht besonders gefiel. »Seit der Rückkehr deines Opas Franzose bist du wie ausgewechselt«, sagte er. »Wir gehen nicht mehr gemeinsam zu unserem Flughafen und Treffpunkt, zum Zryw , das ist gegen unsere Abmachung!«
»Freu dich lieber darüber, dass uns Norbert budapren besorgt hat!«
Der Bucklige Norbert hinkte hinter ihnen her, er machte ein trauriges Gesicht, seine Freude über den Freundschaftsdienst − und immerhin hatte er einen riskanten Diebstahl begangen − war ungestüm verflogen. Bartek beschloss deshalb, den Buckligen mit zum Mittagessen bei Oma Olcia zu Hause zu nehmen.
Sie sagten Anton ein herzliches » Cze ś ć !« und ließen ihn vor dem inoffiziellen Eingang des Friedhofs stehen – sie mussten sich beeilen, da es Oma Olcia hasste, wenn das Essen kalt wurde.
»Ich möchte Deine Lilja Brik sein«
Opa Franzose war tatsächlich zu Hause geblieben, Olcia hatte ihn für einen Tag beurlaubt – die Schachpartien mit Herrn Tschossnek und die Tändeleien mit seiner Frau sollte er erst morgen fortsetzen. Der Fernseher war eingeschaltet, der Franzose lag auf dem Sofa und las ein Buch, dessen Umschlag schmutzig war. Das Papier verbreitete penetranten Kellergestank, die feuchte und faulige Luft des Steinkohlebergwerks hatte Olcias Wohnung erobert und durchdrungen. Daran war sie selbst schuld: Nachdem der Franzose vor fünf Jahren zum wiederholten Male von ihr abgehauen war, hatte sie seine Bibliothek in den Keller verbannt. Verpackt in Kartons lagerten nun die Bücher ihres Mannes in den vom Steinkohlestaub geschwärzten Regalen; Olcia hatte sie wie die Flaschen mit selbst gebranntem Schnaps oder die Weckgläser
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