Der Lippenstift meiner Mutter
Enkel Anton oder Marcin mit von ihr zubereiteten Speisen bewirtete. Hatte sie Kohlrouladen gekocht, behielt sie den Kochtopf mit dem kostbaren Inhalt im Auge: »Ich habe sie gezählt – zwei Kohlrouladen fehlen! War einer deiner Kumpels hier? Und seit wann gibt es bei uns Selbstbedienung?«, schimpfte sie. Doch am ärgerlichsten war für Olcia und für andere Frauen ihres Alters und Kalibers, wenn ein Fremder – mit wem auch immer in der Familie er gut befreundet war – zu Besuch kam und gleich nach der Begrüßung schnurstracks zum Kühlschrank rannte, um sich ein Stück Wurst abzuschneiden, ohne zu fragen, ob er dies überhaupt dürfe. Und waren Anton und Marcin beim Schusterkind zu Besuch, hatten sie keine Scheu, sich so zu benehmen, als wären sie in einem Schnellrestaurant − Bartek störte ihr lockerer Umgang mit manchen Sitten und Bräuchen nicht, da er sich bei ihnen zu Hause nicht viel anders verhielt.
Gegen neunzehn Uhr kam der Bucklige Norbert mit einer Nachricht für den Franzosen. Plötzlich musste Barteks Opa seinen Bücher- und Philosophiekontinent auf dem Sofa verlassen: Der Totengräber Biurkowski hatte den Franzosen um Hilfe gebeten. Sein Sohn Schtschurek wurde ja seit vierundzwanzig Stunden von der Miliz festgehalten − aufgrund des Verdachts, er habe den Armeetanklaster in Brand gesteckt und damit auch den Unfall mit den brennenden Kühen verursacht. Der Franzose sagte, als er in seine neuen Winterstiefel sprang: »Der soll sich einen Anwalt nehmen – die Zeiten, als ich in unserer Stadt noch etwas zu sagen hatte, sind vorbei. Dem alten Biurkowski wird nicht einmal unsere taffe Kommunistin Frau Kwiatkowska helfen – sie ist nicht mehr für die Reinheit des Gewissens unserer Stadtbevölkerung und Nation zuständig: Die Miliz hört nicht mehr auf die mahnende Stimme einer regierungstreuen alten Dame!« Ungeachtet seiner Zweifel machte sich Opa Franzose auf den Weg zum Totengräber Biurkowski, der in der General-Bem-Straße wohnte, die wiederum in den Broadway mündete. Schtschureks Vater musste auf dem katholischen Friedhof gegenüber der Molkerei für ein karges Monatsgehalt schwer schuften, und niemand nahm es ihm letztendlich übel, dass er von den wohlhabenderen Bürgern, die sich für ihre Nächsten eine besonders gut exponiert gelegene Grabstelle wünschten, Schmiergeld kassierte. Ab und zu platzte er mir nichts dir nichts in die Werkstatt von Herrn Lupicki herein, trank auf die Schnelle einen Tee oder einen Schnaps und erzählte den Schustern und ihren Kunden, wen er wieder unter die Erde gebracht hatte, und wenn er etwas angetrunken war, standen ihm vor lauter Schwermut die Tränen in den Augen. Die Schwermut des Totengräbers war aber etwas eigenartig, denn er tat dann immer so, als wäre der Friedhof nicht von Toten, sondern von Lebenden bevölkert. Er meinte: »Ich sage euch – die Gräber haben Augen und schauen mir beim Arbeiten zu. Und manchmal höre ich Stimmen: Neulich sagte ein Grab zu mir, ich möge doch der Frau des Verstorbenen ausrichten, ihr toter Mann wünsche, von ihr nicht mehr besucht zu werden!«
Das Schusterkind und sein Opa trennten sich vor dem mittelalterlichen Tor, dessen Turmuhr noch immer nicht repariert war. Bartek wusste mittlerweile nicht mehr genau, wann eigentlich diese riesige Uhr stehen geblieben war, an welchem Tag, in welchem Monat und Jahr. Das Datum, an dem der Stundenzeiger des mittelalterlichen Tors nicht mehr weiterarbeiten wollte und seinen Dienst einstellte, war dem Gedächtnis des Schusterkindes entflohen. Und es gefiel Bartek, in dieser kaputten Zeit, die nicht mehr gemessen werden konnte, zu leben. Als Bartek den Defilierplatz mit den sozialistischen Gedenkanlagen überquerte und den Stadtpark mit den Tennisplätzen erreichte, wurde ihm klar, wie sehr er das Lunatal bereits jetzt schon, obwohl er noch gar nicht auf die Flucht gegangen war, vermisste. Hier im Stadtpark wurden im Sommer Konzerte und Discoabende veranstaltet, an glühenden klebrigen Junitagen füllten sich die Wiesen mit nackten Körpern, Olcias Töchter faulenzten in der Sonne, cremten sich mit Sonnenmilch ein, und ihre Kinder tobten auf den Spielplätzen herum. Manchmal brachte Oma Olcia eine emaillierte Ein-Liter-Kanne mit kalter Buttermilch vorbei, die den Durst ihrer Töchter löschen sollte. Doch nachts wagte sich niemand in diese gefährlichste Zone des Städtchens, in der sich angeblich schon viele Tragödien abgespielt hätten. So sollten Mädchen im Schulalter,
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