Der Lippenstift meiner Mutter
Dolina Ró ż ein Fernsehteam aus Łódź, das einen Kurzfilm über Textilprodukte aus polnischem Leinen zu drehen beabsichtigte. Das polnische Leinen genoss zur Freude der Kommunisten sowie solcher Nationalisten wie dem Schuster Micha ł Kronek oder dem Fabrikdirektor Szutkowski ein großes Ansehen in der Welt − Szutkowski hielt in der Schusterwerkstatt ab und zu einen patriotischen Vortrag über die zwei verfeindeten politischen Blöcke und ihre wichtigsten Errungenschaften auf dem Gebiet der Kultur und Wissenschaft: »Die Amerikaner haben zusammen mit ihrem Geheimdienst das Gift Coca-Cola und die Atombombe erfunden und sind als erste Menschen auf dem Mond gelandet – wir aber sind stolz auf unser polnisches Leinen und auf unsere Dirnen, die neben den tschechischen die schönsten der Welt sind! Die Folklore, gepaart mit dem desparaten Heldentum des Königs Leonidas und seiner Hopliten, ist unsere Stärke!« Szutkowskis Wirkwarenfabrik Warmianka , eine prächtige Filiale der Lodzier Textilproduktion, stellte auch Fenstervorhänge und Bettwäsche aus Leinen her. Das Fernsehteam hatte halb Polen nach einem privaten Haushalt mit möglichst vielen Leinenprodukten des täglichen Gebrauchs abgesucht, aber erst in Dolina Ró ż waren die Dokumentarfilmer fündig geworden. Der Fabrikdirektor Szutkowski nämlich hatte die Dokumentarfilmer mit Barteks Eltern bekannt gemacht, da er wusste, dass Frau Stasia in bunt gefärbte und bemusterte Leinenstoffe ganz vernarrt war und dementsprechend ihr Quartier im Plattenbau eingerichtet hatte. Fenstervorhänge, Geschirrtücher, Bettwäsche, Sessel- und Couchbezüge, Tischdecken, Servietten und gar Hemden und Sommerkleider aus Leinen, Lampenschirme oder ganz einfach Handtücher – die Wohnung in dem orangefarbenen Wohnblock glich trotz der bescheidenen Möbeleinrichtung dem Schneiderladen von Frau Sadowska. Stasias jüngere Schwester Hania, Onkel Fähnrichs Frau, war von Beruf Schneiderin – sie bekam von Barteks Mutter von Zeit zu Zeit einen Nähauftrag, und da Tante Hania in der hohen Nähkunst sehr begabt war, gelangen ihr großartige Arbeiten, zumal die Leinenstoffe jedes Mal mit besonderer Sorgfalt von der Mutter ausgesucht worden waren. Die Muster und Arabesken dieser Stoffe begeisterten jeden Kunsthistoriker: die nüchternen Bauhaus-Lektionen – die Akrobatik der Streifen, Quadrate und Dreiecke; dann das Gegenteil dieser wunderbaren Bauhaus-Mathematik, bombastische Brunnen und Fontänen aus Pompeji und heidnische Jugendstilgesichter der Götter oder begehrenswerter Jünglinge traten gegeneinander an wie bei den Olympischen Spielen. Die auf den Fenstervorhängen abgebildeten buntscheckigen Arabesken und mythologischen Szenen aus dem Alltag der Götter und ihrer irdischen Untertanen erzählten zugleich vergessene Legenden und Liebesgeschichten – Stasia hatte die griechischen, römischen und pruzzischen Mythen für das Lunatal gerettet, und niemand wusste, ja, niemand ahnte, dass das Schusterkind im Reich der Mythen aus polnischem Leinen aufwuchs.
Die Dreharbeiten hatten schon am frühen Morgen begonnen und zogen sich bis Mitternacht hin; und da die Tür zu Barteks Wohnung offen stand, wimmelte es im Treppenhaus auf der zweiten Etage von neugierigen Gaffern. Bartek war damals erst zehn Jahre alt, aber er fühlte sich an jenem Tag stark und endlich unschlagbar gegenüber den Jungen, die seine Nachbarn waren und die ihn hänselten. Die Filmszene, in der die Mutter ihrem Sohn bei seinen Hausaufgaben mir Rat und Tat zur Seite stand, musste viele Male wiederholt werden. Bartek saß am heiligen Schreibtisch der Mutter, erledigte seine schriftlichen Hausaufgaben, und Stasia brachte ihm Tee und ein Stück Kuchen, während der Vater im Zeichen des Wassermanns das Badezimmer okkupierte: aus Angst vor einem Auftritt in der Öffentlichkeit. Dass Stasias Schmuck- und Kosmetikaltar im Fernsehen gezeigt werden sollte, erfüllte das Schusterkind mit Stolz, ja, es erregte Bartek sogar, daran zu denken, die intimsten Geheimnisse seiner Mutter würden womöglich für ein Millionenpublikum sichtbar und zugänglich werden, und er dachte: Der Lippenstift meiner Mutter wird in all die fremden Männer, die vor dem Fernseher hocken, eindringen und sie schwängern.
Stasia hatte die Dreharbeiten gar nicht gut verkraftet: Die starke Studiobeleuchtung hatte die ganze Wohnung so erhitzt, dass Barteks Mutter hohes Fieber bekam und noch in derselben Nacht ins violette Johanniter-Krankenhaus eingeliefert
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