Der Lippenstift meiner Mutter
junge Frauen und sogar alte Weiber den Stadtpark in den Abendstunden und vor allen Dingen in der Nacht tunlichst meiden. Frauen und Kinder seien in der Nähe der Tennisplätze des Öfteren überfallen und geschändet worden, erzählten die entsetzten Schuster, wenn sie von Fremden oder Unwissenden gefragt wurden, ob die zahlreichen Gerüchte über die Vergewaltigungen und Morde im Stadtpark stimmten.
Bartek aber hatte keine Angst, die verbotene Zone, die weiße Dezemberwüste der Tennisplätze, Liegewiesen und Kartoffelrosenbeete um diese späte Zeit zu durchqueren – es war nun mal der kürzere Weg, den er gewählt hatte. Und − er musste sich über seinen Mut wundern – er wollte sich selbst wie auch den Schustern und allen anderen, die an die Existenz von skrupellosen Mördern und Psychopaten glaubten, beweisen, dass Dolina Ró ż kein Irrenhaus war.
Als Bartek im Yachtclub eintraf, warteten seine Freunde schon auf ihn: Sie sagten, sie hätten eine Überraschung vorbereitet.
Wie gewöhnlich fand die Sitzung in der geräumigen Doppelgarage statt, in der problemlos zwei Pkws abgestellt werden konnten. Dort stand auch die Yacht, an der Antons Opa seit Jahren allein und in liebevollster Feinarbeit baute. Es war warm und hell in diesem stalagmitischen, an den Wänden bis an die Decke mit Holz, Lacken und Werkzeug vollgestopften Raum, die Heizstrahler liefen auf Hochtouren, sämtliche Neonlichter waren eingeschaltet, die batteriebetriebene Beleuchtung in der Kajüte des Segelbootes funktionierte einwandfrei – die Kajüte hatte Antons Opa schon vor langer Zeit fertiggestellt, und dort saßen die vier Freunde auch am liebsten, wenn es etwas Wichtiges zu besprechen gab, so wie an diesem Samstagabend: auf dem Tisch das Dosenbier von Pewex , ein Heizstrahler auf dem Holzdeck der Kajüte − und das Segelboot, abgelegt und gestartet in Gda ń sk, war auf dem Atlantik zu den Kanarischen Inseln unterwegs. Das Radio 3 spielte die neuesten Hits, und Anton inhalierte genüsslich die Dämpfe des Klebers budapren , den der Bucklige Norbert aus der Werkstatt seines Vaters gestohlen hatte; die Segler hofften auf den Schutz der Götter – das geübte Auge eines Skippers erkannte leicht die Plejaden, den Orion oder den Kleinen Hund.
Die Überraschung funktionierte perfekt: Das Schusterkind hätte im Warteraum des Yachtclubs jeden erwartet – selbst Schtschurek oder gar einen Leichnam −, aber mit den beiden Gästen, die in der Kajüte des Segelbootes saßen, hatte Bartek nicht gerechnet. Die Tochter von Herrn Lupicki und ihr Halbbruder der Bucklige Norbert waren offensichtlich von Marcin zu der geheimen Sitzung eingeladen worden. Aber warum? Was führte er im Schilde, der Aristokrat und Bandenchef, dessen liebstes Vorbild kein Geringerer war als der unsterbliche TV -Star Tolek Banan?
»Was macht ihr denn hier?«, fragte Bartek. »Und du Norbert – du bist vor einer halben Stunde noch bei meinem Opa gewesen! Wie ist das möglich? Kannst du fliegen? Du Schwachkopf! Ist deine Armbanduhr auch stehengeblieben?«
»Beleidige uns nicht«, antwortete Mariola im Namen ihres Halbbruders.
Das Zischen der Bierdosen und das Lachen von Anton und Romek nahmen den Fragen des Schusterkindes ihren berechtigten Ernst, zumindest was das Staunen Barteks anging.
Marcin war verliebt, er war genauso zum Verrücktwerden verliebt wie Anton, der am nächsten Morgen sein erstes Rendezvous mit der Tochter des Fabrikdirektors Szutkowski hatte. Und Mariola mochte etwas oberflächlich und manchmal sogar ungehobelt sein, aber sie war sich ihrer Schönheit und Wirkung auf die Männer vollkommen bewusst – damit war sie so unberechenbar und gefährlich wie ein Stöckelschuh, der es laut Herrn Lupicki bestens verstünde, zu verführen und zu verletzen, was nämlich seine eigentliche Berufung sei. Der alte Schuster fürchtete sich vor den Stöckelschuhen seiner Kundinnen, vielleicht eben deshalb, weil ihm seine zweite Frau eine Tochter geschenkt hatte, die mittlerweile um die Macht der Stöckelschuhe bestens Bescheid wusste und die nur noch eine unorthodoxe häretische und besessene Lehrerin brauchte − eine Lehrerin, die Mariola im Verführen und Verletzen zu einer Meisterin ausbilden würde. Vielleicht musste Bartek ein paar Steine ins Rollen bringen, damit Mariola die Schülerin von Stasia würde. Zumindest hatte das Schusterkind mittlerweile begriffen, dass es zwischen den Stöckelschuhen und den Lippenstiften einen geheimen Pakt gab und dass sie
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