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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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Mittagessen bei Oma Olcia, der Fronleichnam und der 1. Mai
    Anton, der an Gott nicht glaubte, musste dennoch jeden Sonntag in der St.-Johann-Kirche beten und seiner Mutter während der Heiligen Messe Gesellschaft leisten. Er hatte schon mehrmals verschiedene theologische Experimente durchgeführt, die beweisen sollten, dass es Gott nicht gab. Bei keinem dieser Versuche wurde er von Pfarrer J ę drusik erwischt − die Strafe wäre sicher so streng ausgefallen, dass Anton seine Experimente nie wieder würde wiederholen wollen. Er hatte schon mehrmals in den Weihwasserstein in der St.-Johann-Kirche gespuckt, und jedes Mal war nichts geschehen: Der Zorn Gottes war ausgeblieben. Es geschah auch dann nichts, wenn er bei der Kommunion die Hostie nach ihrer Verabreichung heimlich aus dem Mund nahm und später vor den Augen Barteks und Marcins der Flamme eines Feuerzeugs aussetzte, um die Oblate − den Leib Christi − zu verbrennen. »Seht ihr!? Es passiert nichts!«, freute er sich jedes Mal. »Es kann auch nichts passieren: Sie nennen es den Leib Christi, dabei handelt es sich bei der Oblate um einen Teig aus Weizenmehl und Wasser.« Doch als sein wichtigster Beweis, dass es Gott nicht geben konnte, entpuppte sich das Experiment mit dem Kreuz, das er dem jungen Pfarrer J ę drusik aus der Sakristei gestohlen hatte. Es handelte sich bei diesem Kreuz um ein ganz ordinäres Stück Holz, und die Figur Jesu Christi war aus Kiefernrinde geschnitzt worden. Doch dieses zirka dreißig Zentimeter hohe Kreuz, das einen Standfuß besaß und sich dadurch besonders gut dafür eignete, auf einem Schreibtisch aufgestellt zu werden, musste für den jungen Pfarrer besonders wertvoll gewesen sein, da er oft vor ihm gebetet hatte. Im katechetischen Unterricht durfte das Kreuz auch nicht fehlen, Vater J ę drusik hatte es zum Unterricht immer mitgenommen und auf dem Tisch, an dem er saß und lehrte, demonstrativ aufgestellt. Anton nützte einmal die Gelegenheit, dass seine Eltern in einen Kurzurlaub gefahren waren, und verbrannte das Kreuz von Pfarrer J ę drusik im Wohnzimmerkamin. Als Zeugen hatte er seine drei Freunde eingeladen: Marcin, Romek und das Schusterkind. Der Zorn Gottes war auch nach diesem Experiment ausgeblieben, worüber Anton froh war. Er sagte nämlich: »Seht! Ich lebe, obwohl ich Jesus und sein Kreuz im Feuer verbrannt habe!« − »Sei dir nicht so sicher«, meinte Romek. »Gott hat sehr viel Zeit. Du wurdest zwar nicht von einem Blitz erschlagen, doch du kannst zum Beispiel in zwanzig Jahren von einem Auto überfahren werden!« Marcin gefielen die theologischen Experimente Antons. Er sagte besserwisserisch, dass er auf empirische Beweise verzichten könne – er habe Bücher von Philosophen gelesen, die längst bewiesen hätten, dass der römisch-katholische Gott nichts weiter als eine Ausgeburt der teuflischen Weltenlenker sei, um das Volk zu betören und anschließend zu versklaven.
    Da also wieder die Heilige Messe anstand, konnten Bartek und der Franzose an diesem Sonntag nicht ausschlafen, obwohl sie beide spät ins Bett gekommen waren. Olcia warf sie gegen Acht aus den Federn, schickte sie in das kalte Badezimmer und kochte für sie in einem riesigen Kessel Wasser, damit sie in der Badewanne baden konnten – zunächst Opa Franzose, dann Bartek; so war die familiäre Reihenfolge geregelt. Den zweihundert Liter Wasser fassenden Kessel, der auch für Kochwäsche benutzt wurde, musste man zu zweit tragen, und als achtjähriger Junge hatte Bartek in diesem verzinkten Wal gänzlich verschwinden und sogar den an einen Ritterschild erinnernden Kesseldeckel aufsetzen und schließen können. Bartek ärgerte es, dass er, wann immer er bei Oma Olcia badete, nie frisches Wasser bekam. Er musste in der schmutzigen Brühe der Erwachsenen baden, da sie scheinbar privilegiert waren.
    »Wer Gott vor die Augen treten will, muss sich vorher anständig waschen und anziehen«, sagte Olcia, als die Badewanne endlich mit heißem Wasser gefüllt war. Dann schrubbte sie dem Franzosen mit einer Badebürste den Rücken; sie biss die Zähne zusammen und bearbeitete diesen weißhäutigen knochigen Rücken, als würde sie den Fußboden in der Küche auf Knien wischen, und da Gott ihr verbot, wütend auf ihre Nächsten zu sein, wischte Olcia gern den Fußboden in der Küche, rupfte sie gern die Hühner und Gänse.
    In ihrem Kleiderschrank hing zwar nichts mehr von ihrem Mann, aber sie zauberte ein weißes Hemd und eine Krawatte hervor −

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