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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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darum, nach der Heiligen Messe möglichst viel Lob des jungen Pfarrers zu ergattern. Olcia und ihre Freundinnen sangen sich in einen Rausch, ihre hohen und hysterisch tönenden Stimmen erreichten solche Schwingungen, die Bartek genauso aggressiv machten wie das betrunkene Geschrei seines Vaters. »Diese selbsternannten Sirenen können sogar einen Toten wiederaufwecken!«, meinte Opa Monte Cassino, dessen Herz sich für den evangelischen Gottesdienst seiner Frau Hilde nie erwärmen konnte: Herr Lupicki holte ihn manchmal mit einem Taxi ab und fuhr mit ihm zusammen zur Heiligen Messe im St.-Johann. Der Weihrauch aus dem Olibanum betäubte die Gedanken, die in den kalten romanisch-gotischen Mauern des St.-Johann nur um eines kreisten: um das Leiden des halbnackten, bärtigen, blutenden und durstigen Mannes. Er schaute Bartek stets mit einem Blick an, der ein Vorwurf war: »Sieh hin, mein Schusterkind, wie ich für dich leide – für dich und die Bewohner eures Lunatals! Und was tust du? Was tun die anderen? Ihr spuckt in den Weihwasserstein und verbrennt meinen von Wunden und Schmerzen gepeinigten Leib im Feuer! Schämt euch für euer Geschlecht! Ihr benutzt meinen Namen für eure Lügen, Kriege und Morde! Schämt euch! Und ihr berührt euch unsittlich! Schämt euch!«
    Bartek sprach im Chor der Betenden das »Vater Unser« und das »Mea-culpa«-Bekenntnis mit, er tat es aber gedankenlos und routiniert, denn er betete vor allem für seinen kleinen Bruder: Die Ärzte versuchten seit vielen Jahren schon, sein junges, noch unverdorbenes Herz zu vergiften. Die Ärzte dienten nur der Partei, die das Volk mit Schweinleber und Zuckerrüben fütterte, und sie kannten eigentlich nur eine einzige Heilmethode: das Verschreiben von Antibiotika. Sie reduzierten die Leiden ihrer Patienten auf handgeschriebene Rezepte, die in den Apotheken erst einmal entziffert und interpretiert werden mussten. Die Antibiotikaengel, wie man sie nannte, unterschieden nicht zwischen Kranken und Gesunden – sie betrachteten alle Menschen als potenzielle Opfer, als lästige Lebende, die Tote werden mussten. Gegen diese handgeschriebenen Rezepte, die im Grunde genommen Sterbeurkunden glichen, konnte sich einzig und allein das Spielzeug- und Papiergeschäft am Markplatz wehren. In seinen Räumen wohnte der Geist des freien, schriftlich noch nicht festgehaltenen Wortes, das der Kirche, der Partei und den Ärzten Angst einflößte. Ein weißes Blatt Papier, das sehnsüchtig auf einen klugen Käufer wartete, war gefährlicher als eine geladene Pistole. Und dieser Geist der Freiheit, der im Spielzeug- und Papiergeschäft regierte, trachtete nicht nach dem Leben der Menschen: Er wollte bloß jeden beschenken – mit Postkarten, Reiseführern, Notizbüchern, Briefpapierblättern, Füllfederhaltern, Blei- und Malstiften, Spielzeugpuppen, Stofftieren, Schachbrettern und Bridgekarten, und manchmal hagelte es sogar Lotto- und Tombola-Gewinne.
    Die Heilige Messe hatte sich durch das Vorlesen von Auszügen aus den Briefen an die Korinther und Galater so in die Länge gezogen, dass nicht einmal Zeit dafür blieb, Anton zu treffen und über die gescheiterte Aktion »Unde malum« von Marcin zu sprechen. Bartek war darüber verärgert, zumal er gerne mit Anton in einer stillen dunklen Ecke eine Zigarette geraucht hätte.
    Das Schusterkind musste Olcia, Opa Franzose, Stasia und Quecksilber bis zum festlichen Mittagessen Gesellschaft leisten, was keine Aufgabe war, die es mit Freude erfüllte. Bartek nützte diesen lästigen Leerlauf sonntäglicher Trägheit für etwas Sinnvolles: Er setzte sich an den Küchentisch, schrieb den von Marcin korrigierten Aufsatz über die Gedichte der Stalinistin sauber ab und las ihn seiner Mutter vor, die ihm bereits nach den ersten Sätzen versicherte, er werde für seine Arbeit eine gute Note bekommen. Olcia bereitete das Mittagessen zu, jonglierte mit den Kochtöpfen und Bratpfannen, schälte Kartoffeln und klopfte die Schweineschnitzel. Unterdessen versuchte Opa Franzose, Quecksilber die Regeln des Schachspiels beizubringen.
    Als dann aber – kurz nach der Ankunft von Barteks Vater − die beiden Schwestern von Stasia mit ihren Ehemännern und Kindern in Oma Olcias Wohnung stürmten und sich binnen weniger Sekunden so ausbreiteten, dass es keine Luft mehr zum Atmen gab, wurde das Schusterkind stumm und antwortete auf keine Frage mehr, die ihm seine Tanten und Onkel stellten. »Bartek ist wieder auf seinem Planeten

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