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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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›Es-gibt-mich-nicht‹ gelandet und spricht mit seiner Meryl oder mit anderen Geistern und Verrückten!«, spotteten sie. Seltsamerweise wurde der Franzose von seinen jüngeren Töchtern, der Erzieherin Agata und der Schneiderin Hania, freundlich begrüßt, als wäre er kein seltener Gast, sondern ein guter Nachbar ihrer Mutter – ein älterer Herr, der Olcia bedingungslos, sowohl in glücklichen Zeiten wie auch in Not, zur Seite stünde. Onkel Versicherung und Onkel Fähnrich bissen sich bei ihren sarkastischen Bemerkungen, welche die Rückkehr des Franzosen betrafen, allerdings kein einziges Mal auf die Zunge, und Barteks Vater, der von dem Humor zweier Staatsdiener nichts verstand, machte gute Miene zum bösen Spiel.
    Tante Agata und Tante Hania quasselten, redeten durcheinander und überhäuften ihren Vater mit zynisch klingenden Fragen: »Ach, du bist endlich wieder da! Wo bist du denn schon wieder all die langen Jahre gewesen? Auf Reisen? Was sind das überhaupt für Reisen? Und musst du wirklich schwer arbeiten? Hast du eine zweite Familie? Eine Geliebte?« Ihr Vater versuchte, höflich zu sein, gab ihnen Antworten, die sie erwarteten, und hängte seinen Ausführungen keinen provozierenden Satz an. Das familiäre Zusammentreffen in der Kopernikusstraße wurde von grellen Missklängen beherrscht – Bartek hielt sich, so gut es ging, die Ohren zu. Olcias Küche war plötzlich zu einer Art Gerichtssaal geworden.
    Quecksilber spielte im Wohnzimmer mit Tante Hanias einziger Tochter und den beiden Söhnen von Agata. Alle drei waren noch jünger als Barteks kleiner Bruder. Die blonden Schwager setzten Kinder in die Welt, ohne sich zu fragen, warum sie das taten. Wie viele waren es inzwischen? Und wie viele hatten wieder die Segel streichen und neben den Krähen auf dem Dach der St.-Johann-Kirche Platz nehmen müssen, allein gelassen mit der Hoffnung auf eine baldige und erneute Reinkarnation ihrer Seelen im Lunatal? Ab und zu weinte Olcia in ihrem kalten Badezimmer bitterlich, sie saß auf dem Holzhocker, rupfte das Huhn und wischte sich die Tränen ab mit ihren muskulösen und etwas zu kurz geratenen Armen, die mit Hühnerblut beschmiert waren. Sie weinte, weil sie wusste, zu wem man in Dolina Ró ż gehen musste, um eine Abtreibung vorzunehmen. Die Hure Marzena brauchte einen kleinen Nebenverdienst.
    Als Oma Olcia nun die Tomatensuppe und die Schweineschnitzel in der Küche servierte, um den gewaltigen Sonntagshunger ihrer Sprösslinge zu stillen, hob sich der Bühnenvorhang des Gerichtssaals, und die drei schwarzhaarigen Töchter des Franzosen zeigten ihre wahren Gesichter und ihre Krallen. Und während Barteks Opa von ihnen übelst beschimpft wurde – als Feigling und Familienmörder −, lachten sich die blonden Schwager kaputt, stopften sich die Mäuler mit den panierten Schweineschnitzeln voll und feuerten ihre Ehefrauen noch an. Bartek zwang sich, an den Frühling und an den Sommer zu denken, um diesem trübsinnigen Beschuldigen und Beschimpfen zu entkommen, und er dachte dann auch an den Fronleichnamstag, wenn er auf Ende Juni fiel, und an den 1 . Mai, wenn dieses Fest an einem sonnigen Tag stattfand, und da wurde ihm klar, dass der Winter erst richtig begonnen hatte, dass er Dolina Ró ż für eine lange unübersichtliche Zeit erobern wollte. Und dennoch, solange Bartek die Erinnerung an den Fronleichnam und den 1 . Mai bewahrte, würde dieser ewige Winter über ihn und seine Freunde nie siegen. Es gab noch Hoffnung.
    Der Staat und die Kirche feierten ihre Feste in einem Rhythmus, der nichts Gutes verhieß: Der Staat und die Kirche gaben sich nach außen hin als zwei miteinander verfeindete Lager aus, in Wahrheit waren sie aber Verbündete, die ihre zahlreichen Feste abwechselnd und nach strikter Absprache feierten, damit das Volk nicht zur Ruhe kam und keine Zeit zum Nachdenken fand. Doch nur diese beiden Feste, der Fronleichnam und der 1 . Mai, hatten eine Gemeinsamkeit, die den scheinfrommen Veranstaltern, dem Staat und der Kirche, gar nicht bewusst war: Das Volk feierte sich selbst, und der Höhepunkt dieses Feierns war die Moderevue, die Barteks Mutter zusammen mit ihren Schwestern und Kolleginnen von der Schule anführte.
    Der arme Jesus!, der arme Marx!, dachte sich das Schusterkind, die jungen Frauen stehlen ihnen jedes Mal ihre Show – meine Mutter und ihre Schwestern präsentieren auf den überfüllten Straßen ihre neuesten Kreationen, ihre Frühjahrs- und Sommerkollektion; die Männer

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