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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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beides hatte sie in ihrer Kommode im Schlafzimmer gefunden.
    »Mehr ist mir von dir nicht geblieben«, sagte sie, als sie ihrem Mann den Rücken trocknete und dann das Hemd und die Krawatte überreichte. »Ich möchte aber, dass du Jesus Christus nicht beleidigst. Dafür musst du dich umziehen.«
    »Ich gehe nicht mit zur Heiligen Messe«, sagte der Franzose beim Frühstück. »Und meine Eisenbahneruniform tausche ich nicht gegen zivile Kleidung. Dafür bin ich viel zu lange im Dienst der polnischen Eisenbahn tätig, als dass ich wieder ein Leben in Zivil führen könnte. Überdies haben die heutigen Menschen vor nichts und niemandem Respekt – nicht einmal vor einer Uniform. Und das ärgert mich. Ich bin ein Soldat des 1 . September 1939 und ein fleißiger Eisenbahner und Reisender. Das sollte man schon respektieren.«
    Olcia sagte: »Dass ich nicht lache! Ein tapferer Mann bist du nie gewesen – sonst wärst du an der Front gefallen: für dein Vaterland. Stattdessen bist du desertiert, geflohen und den Deutschen geradeaus in die Arme gelaufen. Und ohne mich hättest du das KZ nicht überlebt, Freundchen! Ich habe mir das Brot für dich vom Mund weggenommen.«
    Bartek wusste, warum Opa Franzose mit einem umflorten Blick am Küchentisch saß und jedes Wort von Olcia auf die Goldwaage legte: Er fürchtete sich vor der Begegnung mit seinen schwarzhaarigen Töchtern. Schließlich beschloss er doch noch, der Heiligen Messe in der St.-Johann-Kirche beizuwohnen, was Oma Olcias Stimmung sofort verbesserte. Um der Ruhe willen traf er diese Entscheidung, und vielleicht auch noch aus einem anderen Grund. Er sagte zum Schluss: »Als ich jung war, liebte ich die Einsamkeit. Und die Bücher sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Wenn ich allein bin, bekomme ich Schweißausbrüche und finde im geschriebenen Wort keinen Trost mehr. Und dein Schlafsofa, Olcia, ist ein böses Land: Die Erinnerungen zerstückeln mich bei lebendigem Leibe. Olcia, ich weiß noch, wie wir 1947 nach Dolina Ró ż kamen: Monte Cassino und Hilde haben Krähen gefressen, so arm und hungrig waren sie! Und sie wollten uns weismachen, dass das Essen von Krähen eine alte Tradition bei den Ostpreußen wäre … Diese Lügner! Amseln schmecken bestimmt irgendwie menschlicher! Immerhin sind sie hübscher als Krähen!«
    Krähen oder Amseln? Wo ist da der Unterschied, fragte sich das Schusterkind. Bartek kannte diesen stumm machenden Hunger, und die sozialistischen Lebensmittelläden von Dolina Ró ż hatten für ihn eine einzige Funktion: Der Kunde sollte gedemütigt werden. Meryl Streeps Appetit auf Leckereien und exquisite Gerichte war für die Partei gefährlich – die Partei und die Lebensmittelläden fürchteten sich vor diesem Appetit; sie fürchteten sich auch vor den Lippenstiften und Schuhen, die Meryl und Barteks Mutter jeden Tag aussuchten, um auf der Straße und bei der Arbeit hübsch auszusehen und bewundert zu werden. Die leeren Regale der Lebensmittelläden machten die Frauen schlank und begehrenswert, und die Männer fühlten sich von der in den Lebensmittelläden herrschenden Leere bedroht, da sie ihren Familien keinen Wohlstand bieten konnten – nur die Angst vor der Kastration war noch schlimmer als dieses Gefühl der Ohnmacht. Bartek wurde jedoch von Monte Cassino oder Olcia ausgelacht, wenn er sagte, er habe den Hunger kennen gelernt, den sozialistischen Hunger. »Schusterkind! Du weißt nicht, was du da redest – du hast den Krieg nicht miterlebt, und sei glücklich darüber!«, sagten sie dann. »Eine Gurkensuppe oder gebratene Schweineleber kriegst du bei uns an jeder Ecke. Der Staat könnte uns jedoch ein bisschen mehr Fleisch geben, vor allen Dingen für die jungen Leute!« Das Schusterkind hasste aber die meist vor Bratfett triefende, angebrannte Schweineleber, die in den Speisesälen der Fabriken und Schulen serviert wurde.
    Olcia war im siebten Himmel: Sie konnte endlich ihren Freundinnen in der Kirche den Franzosen präsentieren, ihren geliebten Ehemann. Barteks Vater besuchte so gut wie nie die Heilige Messe, er fehlte auch an diesem Sonntag. Gott sei Dank ging es Quecksilber schon viel besser, er und Stasia standen im Foyer des Hauptportals von St.-Johann und lauschten den Worten des Pfarrers J ę drusik. Alte Weiber, die zusammen mit ihren Enkelkindern in die ersten Reihen vorgedrungen waren und vor den Treppenstufen des Presbyteriums eine Mauer bildeten, wetteiferten miteinander beim Singen des »Kyrie Eleison«

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