Der Lippenstift meiner Mutter
Szutkowski gewesen. Zum Glück war die Karol-Marks-Straße nur einen Steinwurf entfernt, und Romek konnte den Betrunkenen mit Leichtigkeit durch den Kellereingang im Garten in die Villa seiner Eltern einschleusen und ins Bett legen.
Auf dem Weg nach Hause durch die weiß glühende Nacht des Lunatals wechselte Marcin mit dem Schusterkind kaum ein Wort: Der Aristokrat fühlte sich nach wie vor beleidigt, und er war so sehr mit seiner Enttäuschung über die ablehnende Reaktion der Bandenmitglieder im poczekalnia , im Warteraum des Yachtclubs, beschäftigt, dass er keine Angst hatte, den Stadtpark zu betreten. Er ließ jedoch Bartek schon nach wenigen hundert Metern inmitten der gepflasterten und verschneiten Alleen stehen und bemerkte, er würde den Rest des Nachhauseweges allein zurücklegen, da er über die Aktion »Unde malum« nachdenken müsse – er werde wahrscheinlich die ganze Idee fallen lassen, meinte er zum Schluss, denn allein könne er eine so gewaltige Partisanenaufgabe, wie er sie im poczekalnia vorgestellt habe, nicht bewältigen.
Bartek ging dann in Richtung des Broadways , vorbei an den Tennisplätzen, auf denen im Sommer Discoabende und Live-Konzerte veranstaltet wurden. Plötzlich hörte er hinter seinem Rücken eine ihm unbekannte Stimme: »Schusterkind! Hast du keine Angst, allein durch die Nacht zu wandern? In dieser kalten nassen Prärie des Winters? Wie ein Storch stakst du im tiefen Schnee, aber was suchst du mitten im Winter hier im Stadtpark? Warum fliegst du nicht in den Süden, und nach einem Zwischenstopp in Frankreich nach Marokko?«
Bartek drehte sich um, doch da war niemand. Um ihn herum herrschte winterliche Stille, der Himmel war immer noch unersättlich und schickte dauernd neue Sterne ins Rennen, obwohl hier und da die ersten schneeträchtigen Wolken aufgetaucht waren, sahnehäufchengroß, aber zum Greifen nah wie die Brüste von Barteks Tanten.
»Wer bist du?«, fragte das Schusterkind.
»Erkennst du mich nicht? Ich bin’s − das Städtchen Dolina Ró ż ! Dein Mädchen Meryl hat mich geschickt! Ich soll dir bei deiner beschwerlichen Reise zur Seite stehen, dein Schutzpatron sein … Wenn dich jemand überfällt, werde ich ihn angreifen, gefangen nehmen und hart bestrafen!«
»Aber ich kann dich nicht sehen! Wo bist du? Und Angst vor Mördern und Entführern habe ich keine. Außerdem ist es nicht mehr so weit zu Olcias Wohnung. Ein Katzensprung – nein: ein Froschsprung!«
»Du bist ein Dümmling! Du siehst mich doch jeden Tag! Überall dort, wo du bist, wo deine Augen sind, siehst du mich – ich bin dein Städtchen, in dem du lebst!«
»Ach so ist das!«, lächelte Bartek. »Man sagt über mich, ich sei verrückt, denn ich würde Stimmen hören, die zu anderen Ohren gar nicht erst vordringen. Also muss ich leider sagen, es verhält sich genau umgekehrt: Du haust in mir – mein Städtchen! Ich habe dich erfunden!«
»Da irrst du dich, und zwar gewaltig, Bartek«, antwortete Dolina Ró ż . »Kein Mensch kann die Welt erfinden, nicht einmal du, du mein Schusterkind! Wir sehen uns morgen früh wieder, ich bin schläfrig wie das mittelalterliche Tor mit der kaputten Turmuhr. Und du solltest dich auch hinlegen. Du weißt doch, wie anstrengend die Sonntage bei uns sind: die Heilige Messe, das Mittagessen und diese hungrigen Zirkustiere dazu – deine Tanten und Onkel.«
In Oma Olcias Schlafzimmer brannte Licht. Das war kein gutes Omen. Das eingeschaltete Licht bedeutete, dass Olcia auf ihren Enkel wütend war und nicht schlafen konnte. Sie hasste es, wenn er vor Mitternacht noch nicht zu Hause war. Bartek musste sich von Olcia eine Schimpftirade anhören, die er schon allzu gut kannte, und sie endete meistens damit, dass er mit einem feuchten Wischlappen, Olcias bester Waffe, einen Schlag ins Gesicht bekam.
Der Franzose kicherte vergnüglich, als seine Frau mit dem Wischlappen auf Bartek lostürmte und ihn verdrosch – im Gesicht und auf dem Rücken.
»Du stinkst nach Bier und Zigaretten! Was wird bloß aus dir werden!«, jammerte Olcia. »Du bist für unsere Familie eine Schande, wie dein Opa und Vater!«
Später im Bett sagte der Franzose: »Na, wenigstens ist es mir gelungen, Schtschurek aus den Fängen der Milizkrake zu befreien. Ich musste meine alten Beziehungen aufwärmen. Der Fabrikdirektor Szutkowski hat mich nicht vergessen. Ich staune, dass Feinde aus alten Zeiten gegen mich keinen Hass mehr hegen.«
Antons theologische Experimente, das sonntägliche
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