Der Lippenstift meiner Mutter
ihre Schwestern im Grunde genommen unberechenbar waren: Wenn sie »ja« sagten, meinten sie eigentlich »nein«. Ihre katholischen Herzen konnten hassen und lieben zugleich, und hatten ihre Hände jemanden erwürgt, verspürten die drei Schwestern sofort Reue: Ihr Opfer musste wieder zum Leben erweckt werden.
Die blonden Schwiegersöhne enthielten sich jeglicher Kommentare, und nachdem sie ihre Bäuche mit Schweineschnitzeln und Kartoffeln gemästet hatten, rauchten sie Zigaretten und tranken im kochenden Wasser aufgegossenen, gemahlenen Kaffee, während Quecksilber, der geborene Suppenkasper, seine Cousine und die zwei Vettern mit leckeren Häppchen fütterte.
»Ich danke euch«, sagte der Franzose, dessen Stimme dem Schluchzen nah war und etwas unbeholfen wirkte. Die heftigen Attacken seiner beiden jüngeren Töchter sowie ihr anschließendes klares Entgegenkommen hatten ihn mächtig verwirrt. Das Schusterkind empfand auf einmal Mitleid für seinen Opa, es träumte immer noch von der Rückkehr des Sommers, von den Parademärschen und Moderevuen in Dolina Ró ż , und sein Mitleid für den alten Eisenbahner galt auch allen anderen Bewohnern des Städtchens, die sich von der Sehnsucht nach Sonne in eine Sackgasse getrieben fühlten.
»Bartek, Bartek!«, sagte Stasia am Küchentisch, als der Frieden in Oma Olcias Wohnung Einzug gehalten hatte. »Wach auf! Wach auf! Dein Essen wird kalt!«
Er schaute seiner Mutter direkt in ihre dunkelbraunen Augen. Diese Hexe!, dachte er, sie will mich mit ihren schwarzen Glühwürmchen hypnotisieren, damit ich nur sie liebe und kein anderes Mädchen: »Spieglein, Spieglein an der Wand«, singt meine Mutter, »welche Dirne ist die schönste im ganzen Lunatal!« Du, Stasia, nur du selbstverständlich!
Als Stasia ein junges Mädchen war und kein Geld für einen Lippenstift hatte, schminkte sie ihren Mund mit Honig, es gab viele Fotos aus jener Zeit der Entbehrungen, und auf einem schwarzweißen Foto konnte man ihre silbern schillernden Lippen bestaunen. Was für eine Schönheit, was für reizende Lippen, stöhnten die Arbeitskollegen von Barteks Vater, wenn sie die alten Bilder zu sehen bekamen.
Nach dem Mittagessen, als Olcia die Teller zu spülen begann, stand Onkel Fähnrich feierlich vom Tisch auf, als wollte er einen Trinkspruch ausbringen, und sagte, dass er für den Eisenbahner und Heimkehrer Franzose eine Überraschung vorbereitet hätte: » Kulig, kulig − wir machen eine Schlittenfahrt zum Teufelsberg im Stadtwald!«
Onkel Fähnrich wusste, dass sein Schwiegervater die traditionellen Schlittenfahrten, die meist im Januar stattfanden und von allen Betrieben des Städtchens organisiert wurden, liebte: Der Wodka floss in Strömen, die Frauen, die in den Fabriken von Dolina Ró ż schufteten, waren freizügiger als bei allen anderen Festen, die Gesänge während der Schneefahrten nahmen kein Ende, und Freundschaften mit Fremden und Feinden ließen sich schnell schließen und ebenso schnell beenden. Onkel Fähnrich, der die ihm untergebenen Soldaten wie Leibeigene behandelte, sagte, er hätte einem jungen und zuverlässigen Gefreiten einen unmissverständlichen Befehl erteilt − der Geländewagen mit dem Pferdeschlitten müsste also bald da sein − und verkündete voller Stolz, dass es in seiner Kaserne keine Pferde mehr gäbe. »Wir sind die berühmte Ko ś ciuszko-Einheit, die Hitler mit modernster Technik besiegt hat! Wir sind die gelben Teufel!«, protzte er. »Wir haben dem Amerikaner die Unabhängigkeit gebracht!«
Onkel Versicherung hielt sich für einen tüchtigen und erfolgreichen Geschäftsmann, obwohl er bereits mit einem Fuß im Gefängnis stand: Einfamilienhäuser, Bauernhöfe und Kuhställe, die angeblich durch einen Brand zerstört worden waren, hatten ihm und seinen Kunden schon des Öfteren wahre Geldregen beschert. Seine beiden Schwager betrachtete er daher als zwei Versager und Duckmäuser, boten doch die Gelbe Kaserne und die Wirkwarenfabrik Warmianka in seinen Augen ausgezeichnete Möglichkeiten für schwarze Geschäfte. Die Soldaten und Arbeiter konnten nämlich bei ihrem Arbeitgeber wertvolle und rare Artikel zu günstigen Preisen erwerben: Schlittschuhe, Fernsehapparate, Kühlschränke oder Lebensmittel – all die Waren aus den hauseigenen Einkaufsläden der Kaserne oder Fabrik ließen sich auf dem Schwarzmarkt bestens verkaufen. »Ich hätte selbst einen Panzer verscherbelt«, prahlte Onkel Versicherung. »Eure Bedenken sind lachhaft – je mehr
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