Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Lockvogel

Der Lockvogel

Titel: Der Lockvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Morgan Jones
Vom Netzwerk:
anderen Besucher waren zum Wandern hier, und Lock und seine Schwester, die früh aufwachten und spielten, wurden oft ausgeschimpft, weil sie die Gäste störten. Everhart schien sich im Stillen zu freuen, dass sie ein wenig Leben in das Haus brachten.

    Zwei Wochen lang gingen sie wandern und schwimmen und machten Ausflüge in malerische Städtchen. Irgendwann in der zweiten Woche erklärte Everhart, er und sein Sohn würden nun eine richtige, lange Wanderung machen, und am nächsten Tag zogen sie los. Everhart ging voran, am Seeufer entlang zwischen dicht gepflanzten Kiefern, die Nadeln trocken unter ihren Füßen. Locks abgewetzte weiße Tennisschuhe rutschten an den Hängen, und er folgte ehrfürchtig dem zielsicheren Tritt der festen Lederschuhe seines Vaters. Bis heute konnte er sich an jeden Moment dieses Tages erinnern. Sie wanderten stundenlang, ohne viel zu reden. Everhart bewegte sich flott, aber nicht so schnell, als dass Lock nicht mit gelegentlichem Rennen und Hopsen hätte Schritt halten können. Um die Mittagszeit, der See lag schon lange hinter ihnen, setzten sie sich im Wald an einen Bach, aßen ihre Brote und sprachen über die Zukunft: wo Lock zur Schule gehen würde, was er an der Universität studieren und wie er sein Geld verdienen könnte, wo er leben wollte. Sie tranken den Tee gemeinsam aus der Kappe der Thermosflasche.
    So lange war Lock noch nie mit seinem Vater allein gewesen, es machte ihn nervös und glücklich zugleich. Am Nachmittag, die Sonne stand mittlerweile über ihren Köpfen und ließ Licht zwischen die Bäume fallen, gingen sie weiter, blieben aber ab und zu stehen, damit Everhart seinen Kompass und die Karte studieren konnte. Oberhalb von Bad Harzburg führte der Weg eine Zeit lang aus dem Wald hinaus, und sie sahen zum ersten Mal Himmel und Berge und den Wald vor sich. Sie blieben einen Moment stehen, um die Landschaft zu betrachten. Locks Vater hockte sich hinter ihn und zeigte über ein flaches Tal auf einen dunklen Waldstreifen hinter einem hohen Metallzaun.

    »Siehst du diesen Zaun?«, fragte Everhart. »Das ist der Eiserne Vorhang. Er zerschneidet Deutschland in zwei Teile. Sei du nur dankbar, dass du Holländer bist.« Lock stellte sich riesige Vorhänge von der Farbe eines Gewehrlaufs vor, die auseinandergezogen wurden, um irgendeine höllische mechanische Welt dahinter zu enthüllen.
    Und was hatte Lock getan? Sich dort niedergelassen. Vielleicht war sein Vater deshalb so entsetzt. Vielleicht hatte Lock in seinen Augen in dem Moment aufgehört, ein Holländer zu sein, als er in den Osten gegangen war. Der Gedanke kam ihm, als er auf einer Schnellstraße, die, egal wie sehr er das Gaspedal durchdrückte, kein Ende zu nehmen schien, an Osnabrück vorbeifuhr. Es war spät geworden, schon nach zehn, und er musste langsam einen Ort zum Übernachten finden. Anhalten erschien ihm wie ein Luxus, aber er erinnerte sich daran, dass er Zeit hatte, vorausgesetzt Webster hatte recht. Auch wenn er sich verfolgt fühlte, er hatte keine Eile.
    Am Flughafen Stansted hatte er einen Koffer gekauft und einen neuen Pullover, Hemden, T-Shirts für die Nacht, Socken, Unterwäsche, einen Rasierer, eine Zahnbürste, ein Buch – ausgerechnet Middlemarch , nach den Caymans hatte er es immer lesen wollen –, einen Notizblock, einen Berlin-Führer und zwei Flaschen anständigen Whisky hineingelegt. Diese neuen Besitztümer erschienen ihm wie das Starter-Set für eine neue Identität, die er jedoch noch nicht klar definiert hatte. In den Taschen seines Mantels hatte er zwei Prepaid-Handys, die Webster besorgt hatte. Eines war dazu gedacht, ein drittes neues Telefon anzurufen, das Webster bei sich trug; das andere diente für alle Anrufe, die Lock in Berlin machen musste. Alle waren sie, so hatte Lock es verstanden,
praktisch nicht zurückzuverfolgen. Und in seiner Brieftasche hatte er fünftausend Euro. Er war bereit. Bereit für einen Streifzug hinter den Vorhang, um seine Identität zurückzubekommen.
    Er war etwa eine Stunde nach Anbruch der Dunkelheit in Rotterdam angekommen und hatte ein gutes Auto gemietet, einen Audi, weil in Deutschland ein teures Auto weniger auffiel als ein billiges. Dann war er losgefahren. Das Navigationsgerät sagte ihm in ruhigem Holländisch von Zeit zu Zeit die Richtung an. Er genoss die solide Machart des Wagens, das Selbstbewusstsein, das er ausstrahlte, den Eindruck, dass es wusste, wohin es fuhr. Zum ersten Mal seit Jahren war ihm die Entfernung zwischen

Weitere Kostenlose Bücher