Der Lockvogel
lesen konnte. Lock aß ein warmes Schinkensandwich; Webster ließ seines kalt werden, während er kritzelte und redete.
Lock sollte London sofort verlassen. Mit Warten war nichts zu gewinnen. Er sollte nach Amsterdam oder Rotterdam fliegen. Bis dorthin konnte man ihm folgen, aber dann würde er ein kleines Ablenkungsmanöver starten. Mit seiner Kreditkarte würde er eine Zugfahrkarte nach Noordwijk kaufen, wo sein Vater lebte, sodass jeder Verfolger annehmen musste, dass er nach Hause fuhr. Stattdessen würde er sich einen Mietwagen nehmen, der von Ikertu über eine unverdächtig klingende Scheinfirma bestellt und bezahlt wurde, und nach Berlin fahren. So würde niemand sein wahres Ziel erahnen.
Von Amsterdam nach Berlin waren es etwa 650 Kilometer, eine Fahrt von ungefähr sieben Stunden. Er konnte in Hannover übernachten oder in einem Rutsch bis Berlin durchfahren. Dort würde er in einem Hotel einchecken, das wiederum Ikertu ausgesucht und bezahlt hatte. Er würde als Mr. Richard Green auftreten und keinesfalls seinen Pass vorlegen.
»Was sage ich, wenn sie danach fragen?«, wollte Lock wissen.
»Sagen Sie ihnen, Ihre Aktentasche sei am Flughafen gestohlen worden, und Sie haben ihn nicht. Sie würden am nächsten Tag zur Botschaft gehen. Wir suchen Ihnen ein Hotel, dem das egal ist.«
Geld war wichtig. Er sollte heute so viel abheben, wie er konnte, und sobald er England verlassen hatte, alles nur
noch bar bezahlen. Für Handys galt das Gleiche. Lock sagte, dass er seine alten gestern zerlegt hatte.
»Gut. Lassen Sie sie so. Bevor Sie fahren, besorgen wir Ihnen ein Prepaid-Handy«, sagte Webster.
Und dann sollte er Nina treffen. Wie er dabei vorgehen wollte, sollte Lock selbst bestimmen. Er kannte sie und konnte entscheiden, was am besten funktionieren würde. Webster gab ihm ihre Adresse und Telefonnummer.
»Wie kehre ich zurück?«
»Sie kommen am Flughafen an und nehmen den nächsten Flug nach London. Machen Sie es so spät wie möglich, gerade bevor der Check-In zu Ende geht. Ich hole Sie am anderen Ende ab und bringe Sie irgendwohin, wo es sicher ist.«
»Was ist, wenn sie mich finden?«
»Das werden sie nicht. Sie hinterlassen keine Spuren.«
Lock saß einen Moment lang still, lehnte sich mit gefalteten Händen auf den Tisch, die Daumen gegeneinandergepresst.
»Wann haben Sie angefangen, mir zu folgen?«
Die Frage überraschte Webster, aber er zögerte nicht, sie zu beantworten. »Als Sie ankamen, gestern.«
»Nein, nicht diesmal. Ich meine, wann haben Sie zuerst angefangen, mir zu folgen?«
»Gestern.« Lock gab Webster einen taxierenden Blick. »Wirklich. Wir hatten vorher keinen Grund dazu.«
»Okay. Okay.«
»Warum?«
»Ich weiß nicht. Als ich letztes Mal hier war, dachte ich, dass mir jemand folgt. Vielleicht habe ich es mir auch eingebildet.« Lock lehnte sich zurück und rieb sich die Wange. »Warum begleiten Sie mich nicht?«
Webster lehnte sich zurück, als ob die Planung abgeschlossen sei. Mit Juris Hilfe würde er genau wissen, wo Lock war, aber jetzt mit ihm zu gehen, würde bedeuten, dieses empfindliche neue Vertrauen aufs Spiel zu setzen. Lock musste denken, dass er die Kontrolle hatte.
»Ich könnte. Aber das ist Ihre Mission. Ich bin nur einen Anruf weit entfernt. Wir werden schon noch einen Geheimagenten aus Ihnen machen.« Er lächelte, die Art von Lächeln, die sagt, alles wird gut ausgehen, egal, wie unwahrscheinlich es im Moment erscheint.
13
Vor fünfunddreißig Jahren, so lange musste es wohl her sein, war Lock auf solchen Straßen durch Deutschland gefahren, nach Altenau, einem Kurort im Harz. Sie waren nachts losgefahren, um dem Verkehr aus dem Weg zu gehen; sein Vater saß hinter dem Steuer, während seine Mutter und seine Schwester schliefen. Eine Kassette mit Opernmusik spielte laut, die hohen Töne blechern und verzerrt. Lock blieb wach und beobachtete das Glühen der Instrumente auf dem Armaturenbrett, das sich in der dunklen Scheibe spiegelte. Auf der geraden Strecke saß sein Vater beinahe vollkommen still, die Arme fest am Lenkrad, als seien sie in einer bestimmten Stellung eingerastet.
Es war ihr zweiter Urlaub in den Bergen. Den ersten hatten sie in Zelten zugebracht, manchmal auf Campingplätzen, manchmal in der Wildnis, aber in diesem Jahr hatte Locks Mutter auf einer Bleibe mit Dach über dem Kopf und einem Badezimmer bestanden, und Everhart hatte ein Gästehaus am Stadtrand nahe des Seeufers gebucht. Sie waren die einzige Familie dort, alle
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