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Der Lockvogel

Der Lockvogel

Titel: Der Lockvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Morgan Jones
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zwei Orten bewusst, zwischen Rotterdam und Utrecht, zwischen Arnheim und Dortmund, und er genoss auch das.
    Vielleicht würden ihn die Schweizer in diesem Auto nicht an der Grenze stoppen. Vielleicht sollte er es riskieren. Nein, dachte er. Vielleicht nach Berlin.

    Er verbrachte die Nacht in einem Motel nahe der Autobahn vor Hannover. Die Ausrede mit seiner Aktentasche hatte gewirkt, und er hatte seinen Ausweis nicht zeigen müssen. Es war seltsam, dass ihn diese kleinen Lügen selbst jetzt – du liebe Zeit, er war auf der Flucht, wenn man vor seinem Chef auf der Flucht sein kann –, noch aus der Fassung brachten. Er zahlte bar im Voraus und fragte sich, ob dies das Detail war, das den müde aussehenden Polen an der Rezeption schließlich dazu veranlassen würde, misstrauisch zu werden und die Behörden zu verständigen. Welche Behörden, wusste er auch nicht.
    Aber niemand kam in der Nacht, um ihn abzuholen.
Nach einem Sandwich, das er in Rotterdam gekauft hatte, und ein oder zwei Gläsern Scotch fiel er in einen tiefen, traumlosen Schlaf und erwachte direkt vor dem Morgengrauen mit rauer Kehle und Kopfschmerzen. Er hatte kein Fenster geöffnet, und es war heiß im Zimmer. Er duschte, zog sich an und war eine Viertelstunde später wieder startbereit. Als er aus der Tür trat, entdeckte er, dass es in der Nacht geschneit hatte und immer noch schneite; dicke weiche Flocken, die auf den Kühlerhauben und Dächern der Autos liegen blieben. Die Straße selbst war mit einer hässlichen grauen Schmierschicht aus Schneematsch, Splitt und Öl bedeckt, und die Fahrt dauerte doppelt so lange wie vorgesehen. Doch er war auf dem Weg, er näherte sich Berlin warm und sicher und von Westen her.
    Er kannte die Stadt nicht. Er hatte sie nie besuchen müssen. Frankfurt, ja, wegen der Banken, aber abgesehen davon hatte Deutschland keine wichtige Rolle in seinen Plänen gespielt. Er folgte der Beschilderung ins Stadtzentrum und hoffte, von da aus einen Wegweiser in Richtung Kreuzberg zu sehen. Durch Charlottenburg, durch den Tiergarten, am Reichstag vorbei: Schließlich fand er sich Unter den Linden wieder und fuhr den breiten Boulevard entlang, dessen Namen er so oft gehört hatte. Er war nicht so schön, wie er erwartet hatte; es sah aus, als hätten die massigen Gebäude auf beiden Seiten die kahlen Linden so verängstigt, dass sie alle Blätter abwarfen und sich in der Mitte der Straße zusammenkauerten.
    Es war seltsam, durch eine Stadt zu fahren, die er nicht kannte. Er brauchte fast eine Stunde, um das Hotel zu finden: Hotel Daniel, das in einer Wohnstraße nahe des Landwehrkanals lag. Es war klein und auf beruhigende Weise
dunkel, und er wurde von einer dicken lächelnden Frau in den Siebzigern, die kaum Englisch sprach, ihn jedoch hinreichend verstand, in sein Zimmer geführt. Er nannte sich Mr. Green. Als er anfing, die Sache mit seinem Pass zu erklären, winkte sie einfach ab.
    Die Tapete in seinem Zimmer war rot und cremefarben gestreift, die Möbel passten nicht zusammen und waren eigentlich ein wenig zu gut für ein Hotel dieser Art. Ein Doppelbett mit einem kleinen Beistelltisch aus Mahagoni, ein ziemlich nobler Schrank, ebenfalls aus Mahagoni und mit einem ovalen Spiegel in der einzigen Tür, eine Kommode, ein Tisch und ein Stuhl. Von seinem Fenster aus konnte Lock durch die Bäume hindurch den Kanal und die darüber verlaufenden U-Bahn-Gleise sehen, dahinter eine rote Backsteinkirche und mehrere Schichten kastenartiger Wohnblocks, die sich bis zum Bezirk Mitte erstreckten. Ein Zug fuhr von links nach rechts vorbei, seine orangegelben Wagen die einzigen Farbtupfer in einer Welt aus Weiß und Grau.
    Lock packte seine neuen Sachen aus, nahm die Hemden aus den Plastikverpackungen und hängte sie zerknittert wie sie waren in den Schrank. Er überprüfte die Ladung seiner Handys. Sollte er Nina jetzt anrufen? Etwas hielt ihn zurück. Einen Moment lang dachte er, es sei die Vorstellung, die Frau seines toten Freundes zu treffen und dann zurückgewiesen zu werden oder nicht zu wissen, was er sagen sollte. Aber das war es nicht. Wenn Nina nichts in der Hand hatte und nichts wusste, war die letzte Hoffnung auf einen wie auch immer gearteten würdevollen Ausstieg, mochte sie noch so unrealistisch erscheinen, zerstört. Hier in diesem gemütlichen Zimmer, während der Schnee die Welt draußen
ausradierte, wollte er diesen Moment gerne ein wenig hinauszögern.
    Er würde ihr eine Karte schreiben. Oder besser noch, einen

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