Der Lockvogel
Kondolenzbrief. Er sei in Berlin und würde sie sehr gerne sehen. Das war nur natürlich, schließlich kannten sie sich, und Dmitri war sein Freund gewesen.
Er ließ sich Zeit, schrieb den Text zuerst in sein Notizbuch, bevor er ihn auf einen Bogen mit Briefkopf des Hotels abschrieb. Als er fertig war, rief er die Rezeption an und schaffte es, in einer Mischung aus Englisch, Holländisch und gebrochenem Deutsch zu erklären, dass er ein Taxi brauchte.
Nachdem er den Brief eingeworfen hatte, ging er den Rückweg von Ninas Wohnung zu Fuß. Das Gebäude hatte in der Dämmerung warm und hell ausgesehen, und er hatte einen Moment lang erwogen, einfach zu klingeln und es hinter sich zu bringen. Aber nein, so war es besser. Es zeigte Respekt.
Der Schnee auf dem Bürgersteig war inzwischen zu grauem Matsch geworden. Lock konnte spüren, wie seine Schuhe an den Füßen kalt wurden, und wusste, dass eisiges Wasser bald durch die Sohle und Nähte eindringen würde. Die weichen Flocken waren einem Gemisch aus Hagel und Graupel gewichen, und der Ostwind ließ sein Gesicht vor Kälte erstarren. Er ging auf der Hauptstraße, stemmte sich gegen die Kälte und nahm wenig wahr außer dem Geräusch der Autos und der Menschen, die auf ihrem Heimweg an ihm vorbeieilten. Er hatte keine Ahnung, wo er war; er hatte zwar eine Karte dabei, aber es hatte wenig Sinn, sie hier aufzuschlagen.
Am Wittenbergplatz bog er auf der Suche nach einer Bar
nach links in eine der ruhigeren Straßen. Dem Himmel sei Dank für alle Bars dieser Welt. Als er eine entdeckte, war es eher ein Café, ziemlich nobel und wienerisch, aber es würde gehen. Es war warm und warm beleuchtet, und er fand ein Separee, das ihm als das Gemütlichste erschien, was er je gesehen hatte.
Er bestellte Bier, weil er in Deutschland war, und trank das erste in vier oder fünf tiefen Zügen. Ein weiteres wurde gebracht. Er schaute auf die Speisekarte und bestellte etwas zu essen: Gebeizten Lachs und Wiener Schnitzel.
Aus seinem Mantel nahm er eines seiner Handys. Er betrachtete es eine Weile und legte es dann auf den Tisch. Es zog ihn magisch an. Er wollte Marina anrufen, um ihr zu sagen, dass alles in Ordnung war und dass er einen Plan hatte, aber er wusste nicht recht, ob das wirklich eine gute Idee war. Webster hatte gesagt, dass er Anrufe machen könnte, oder etwa nicht? Beim dritten Bier kapitulierte er.
»Marina?«
»Richard?«
»Hi. Ich dachte, ich sollte mich mal melden.«
»Richard, wo bist du?«
»Das kann ich nicht sagen. Ich wollte nur … ich wollte dir nur sagen, dass ich okay bin.«
»Vika will dich sehen. Ich glaube, sie spürt, dass ich mir Sorgen mache.«
Lock rieb sich die Augen mit seiner freien Hand und massierte seinen Nasenrücken.
»Ich werde sie bald besuchen«, sagte er. »Sag ihr, dass ich sie bald besuchen werde.«
Eine Pause entstand. »Ich habe da gestanden«, sagte Marina, »und deinen Namen über die Mauer geflüstert.«
»Tut mir leid. Ich war okay. Ich hätte dir das sagen sollen.«
Sie schwiegen wieder.
»Ich habe getan, was du vorgeschlagen hast«, sagte Lock.
»Was?«
»Ich habe mir Hilfe geholt. Ich bemühe mich, einen Ausweg zu finden. Es geht mir jetzt schon besser. Frei zu sein. Ich kann klarer denken.«
»Das ist gut, Richard, aber … du wirst nicht weglaufen, oder? Ich glaube nicht, dass ich das ertragen könnte.« Marina sprach sehr leise.
»Nein. Nein, das werde ich nicht.«
»Ich dachte, du hättest es schon getan.«
»Ich werde mich der Sache stellen. Ich glaube, das muss ich.«
Marina war einen Augenblick lang still. »Das ist gut. Wirklich. Wir werden dir helfen. Ich werde dir helfen.«
»Ich weiß.«
Eine weitere Stille folgte, die von Marina gebrochen wurde. »Konstantin hat angerufen.«
Lock sagte nichts.
»Heute Morgen. Er wollte wissen, wo du bist.«
»Was hast du ihm gesagt?«
»Dass ich es nicht weiß.«
»War das alles?«
»Er wollte wissen, ob ich auch das Vertrauen in ihn verloren hätte.«
»Und?«
»Ich habe ihm gesagt, dass ich Moskau damals nicht nur verlassen habe, um von dir wegzukommen.«
Wieder schwieg Lock.
»Er sagte … er hat mir erzählt, dass er versucht, dich zu retten.«
Lock schloss die Augen. »Es bringt nichts, mir das zu sagen.«
»Ich dachte, du solltest es wissen.«
»Glaubst du ihm?«
»Ich glaube, er weiß nicht mehr, was er sagt.«
Lock nickte langsam und gedankenverloren. Erwartete Malin wirklich, dass er ihm das glaubte? Solche Spekulationen führten zu
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