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Der Lockvogel

Der Lockvogel

Titel: Der Lockvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Morgan Jones
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lang nach. Prioritäten wirbelten in seinem Kopf durcheinander. »Würden Sie sich mit ihr treffen?«
    Das Telefon schwieg einen Moment. Bitte, er brauchte Hilfe.
    »Ich komme morgen zu Ihnen«, sagte Webster schließlich. »Ich schicke Ihnen alles Weitere per SMS.«
    »Danke. Mit Ihnen wird sie sich vielleicht treffen.«
    »Vielleicht. Sind Sie wirklich okay?«
    »Mir geht es gut.«
    »Halten Sie durch. Wir finden zusammen eine Lösung.«
    Als Lock das Schuhgeschäft verließ, hatte er seine alten Schuhe in einer Plastiktüte und die neuen trocken und passgenau an den Füßen. Sie hatten gezackte Sohlen und wurden spielend mit dem Eis fertig. Er fühlte sich wieder als Herr der Lage und machte sich auf die Suche nach dem Café, in dem er am vorigen Abend gegessen hatte. Zwei Tage in der Stadt, und er hatte schon eine Routine. Er war zu müde, um etwas anderes zu tun.
    Dieser Teil von Berlin bestand aus breiten Straßen und massiven Wohnblocks. Etwas am Rhythmus der Gebäude – die schmalen Fenster, die Abstände zwischen ihnen, die Höhe der Stockwerke – erinnerte ihn stark an Moskau. Die Farben auch: Creme, schmutziges Gelb, Grau. Und auf den Straßen kaum Menschen im Schnee, die Bürgersteige ein rutschiges Chaos, das Licht der Lampen ein harsches
Blau. Plötzlich und mit einem panischen Schrecken wurde ihm klar, dass das hier tatsächlich eine Stadt des Ostens war. Er hatte sich von der Illusion täuschen lassen, das hier sei der unbestechliche Westen. Er war hier nicht sicher. Hier konnten sie einen erwischen, wenn sie wollten; es war nicht weit genug weg. Wahrscheinlich wussten sie schon, dass er hier herumlief. Er spürte sein Herz in seiner Brust hämmern, seine Kehle fühlte sich geschwollen an und machte es ihm unmöglich zu schlucken.
    Er ging jetzt schnell, fast rennend, zu seinem Café, wo er wieder Bier bestellte und Suppe und Würstchen mit Sauerkraut aß. Langsam beruhigte er sich und warf sich selbst vor, nicht früher etwas gegessen zu haben. Und er bedauerte, dass er nicht daran gedacht hatte, sein Buch mitzubringen. Aber er hatte ja noch sein Notizbuch, und eine Zeit lang zeichnete er geistesabwesend darin herum. Zuerst entstand Webster, er trug einen Regenmantel, einen Filzhut und eine dunkle Brille, eine Blume im Knopfloch und eine zusammengefaltete Zeitung unter dem Arm. Dann Lock selbst, auf einer hohen Mauer sitzend, ein Arm und ein Bein waren sichtbar. Er schaute die Bilder einen Moment lang an, schüttelte den Kopf, als ob er ihn freimachen wollte, und schlug dann eine neue Seite auf. Er musste diese Sache durchdenken. Er zog zwei Linien von oben nach unten und versah jede der drei Spalten mit einer Überschrift: Kooperieren , Zurückgehen , Fliehen . Dann zog er zwei waagerechte Linien und beschriftete die entstehenden Zeilen mit Wahrscheinliches Ergebnis , Risiken , Hindernisse . Er brauchte eine halbe Stunde, um das Gitter mit seiner ordentlichen, engen Handschrift zu füllen, und er spürte, wie sich beim Schreiben seine Gedanken entwirrten. Es war zweifellos ein
seltsames Dokument; er fragte sich, was jemand davon halten würde, der es zufällig in die Hände bekam. Es wurde ihm klar, dass es zumindest teilweise deshalb seltsam aussah, weil nirgendwo stand, was er eigentlich wollte. Es war ihm nicht eingefallen, diesen Punkt mit aufzunehmen, und er war auch nicht sicher, wo er ihn hinschreiben sollte.
    Also schrieb er auf die gegenüberliegende Seite zwei Dinge: Marina sehen und Vika sehen . Er hielt inne und betrachtete die Worte eine Weile und wünschte, er hätte das vor fünf Jahren so eindeutig gewusst. Was die Worte ihm nun sagten, war, dass er keine andere Wahl hatte: Er musste auf Webster warten und diese Sache hier durchstehen. Er schloss das Buch und ließ seine flache Hand darauf liegen, als wollte er schwören. Dann steckte er es wieder in seine Tasche, zu Marinas Brief, zahlte die Rechnung und ging in die Nacht hinaus.
    Es war keine belebte Gegend. Um ihn herum schlossen die Geschäfte, und die dazwischenliegenden Büros waren bereits dunkel. Berlin fühlte sich wieder leer an. Er sehnte sich nach einer Bar mit jungen Menschen darin, sie mussten doch irgendwo sein. Er blieb einen Moment lang vor der Tür des Cafés stehen und schaute auf seine Karte. Schöneberg lag in der Nähe. In seinem Führer hatte etwas über Schöneberg gestanden, er hatte vergessen, was es war. Er würde es dort versuchen.
    Als er die Kurfürstenstraße entlangging, kam er an einem Mann vorbei,

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