Der Lockvogel
bereithält.«
»Okay. Ich nehme an, Sie melden sich bei mir?«
»Bis ich ein neues Handy habe, ja. Ich rufe heute Abend wieder an.«
Webster hängte den Hörer ein. Seine Hand fror in der Abendluft. Er steckte sie tief in die Manteltasche und rannte los, um ein Taxi zu finden.
Zweihundert Meter vor dem Daniel bat er den Taxifahrer, anzuhalten. Er suchte beide Seiten der Straße mit den Augen ab und konnte nichts Verdächtiges sehen, nur leere Autos. Er ging ein ganzes Stück am Hotel vorbei, und auch dort fiel ihm nichts auf.
Er hatte sich entschieden, die Leiterin des Hotels um Hilfe zu bitten; er musste in Locks Zimmer und zog es vor, nicht bei einem Einbruchsversuch erwischt zu werden. Frau Werfel war nicht der Typ Frau, der in Panik geriet; sie betrachtete
seinen Kopf mit Interesse, aber mehr auch nicht. Er erklärte ihr in stockendem Deutsch, dass er einen Streit mit Mr. Green gehabt habe und von einem Moped angefahren worden sei, als er ihm über eine befahrene Straße nacheilen wollte. Als er wieder zu sich kam, sei Green verschwunden gewesen, was besorgniserregend sei, weil er unter Depressionen leide und nun vielleicht seine Medikamente nicht dabeihabe. Es war das Beste, was ihm gerade einfiel. Frau Werfel nickte ernst, als würde sie ihm kein Wort glauben, aber solche Dinge nur allzu gut verstehen. Ob sie Mr. Green gesehen hatte? Nein, das hatte sie nicht, aber sie war schließlich den Nachmittag über beschäftigt gewesen und hatte oft in den Keller hinuntergehen müssen. Ob es ihr etwas ausmachen würde, Webster in das Zimmer zu lassen? Sie schaute forschend in sein Gesicht, schätzte ihn ein. Nein, würde es nicht. Webster dankte ihr und folgte ihr zwei Treppen hoch in Locks Stockwerk; er betrachtete ihre dicken Knöchel in den schafwollgefütterten Stiefeln, während sie Stufe für Stufe erklommen. Als er den düsteren und überheizten Korridor entlangging, hatte er eine brutale Vision, in der er die Tür öffnete und Lock erhängt vorfand, seine neuen Schuhe in der Luft baumelnd. Er schüttelte den Kopf, um den Gedanken zu verjagen.
Es war niemand in Locks Zimmer. Frau Werfel ließ ihn hinein, und er suchte demonstrativ im Bad nach der Medizin. Aber schon als die Tür sich öffnete, hatte er auf dem Tisch einen Umschlag bemerkt, der vorher noch nicht dort gelegen hatte, da war er sich sicher.
»Er scheint sie mitgenommen zu haben«, sagte er, als er aus dem Bad kam, »das ist gut. Hören Sie, ich würde gehen und ihn suchen, aber ich habe keine Ahnung, wo ich suchen
soll. Sein Telefon ist abgeschaltet. Ich denke, ich werde hier auf ihn warten. Ich will sicher sein, dass ich ihn erwische.«
»Ich könnte Ihnen Bescheid sagen, wenn er wieder zurückkommt.«
»Aber Sie sind beschäftigt, Frau Werfel. Ich will Sie nicht zwingen, den ganzen Abend an der Rezeption zu sitzen.«
Sie schien kurz zu überlegen, ob sie ihm widersprechen sollte. Schließlich nickte sie nur, wünschte ihm einen guten Abend und ging, wobei sie die Tür hinter sich schloss.
Der Umschlag war cremefarben und klein und nicht beschriftet oder bedruckt – die Art, wie man sie für private Briefe benutzt. Er sah aus, als gehörte er zu dem Hotelbriefpapier, das im Regal direkt daneben lag. Webster nahm ein Blatt Papier aus dem Regal und drehte mit dessen Hilfe den Brief um. Er war nicht zugeklebt; die Lasche war lediglich eingesteckt. Webster zerriss sein Blatt sorgfältig in zwei Teile, mit denen er seine Finger bedeckte, um die Lasche erst nach hinten und dann heraus zu ziehen. In dem Kuvert befand sich ein einzelnes Blatt Papier, das einmal gefaltet war. Mit immer noch bedeckten Fingern zog Webster es aus dem Umschlag und breitete es auf dem Tisch aus. Es war ein Blatt Briefpapier des Hotels Daniel. Die Kanten waren ein wenig angestoßen, als hätte es schon längere Zeit in dem Zimmer gelegen, bevor es benutzt worden war.
Das Papier war in einer gleichmäßigen Handschrift mit blauem Kugelschreiber beschrieben. Die Schrift war regelmäßig, zeigte aber Anzeichen von Übermut: Ein Schnörkel beendete das »f«, das »g« schwang sich elegant hinauf zum »e«. Webster erkannte die Schrift von den Unterschriften auf Hunderten von Dokumenten, die er in letzter Zeit gelesen hatte.
Seit mein Freund Dmitri Gerstman tot ist, bin ich unglücklich. Ich habe einen guten Freund verloren. Meine Familie habe ich schon vor langer Zeit verloren. Vor Gericht und in den Zeitungen habe ich meinen guten Ruf verloren. Ich habe nichts mehr.
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